»Diese Politik ist ein Verbrechen«
Der israelische Anwalt Omer Shatz hat Angela Merkel und andere EU-Verantwortliche vor dem Strafgerichtshof in Den Haag verklagt. Sein Vorwurf: Sie tragen schwere Schuld am Elend der Flüchtlinge auf dem Mittelmeer
DIE ZEIT: Herr Shatz, seit 2014 sind mehr als 18.000 Menschen im Mittelmeer ertrunken. Wir Journalisten schreiben von Unglücken, Politiker sprechen von einer Tragödie. Sie sind Anwalt. Wie nennen Sie das, was auf dem Mittelmeer passiert?
Omer Shatz: Ein Verbrechen. Jahrelang wurde uns weisgemacht, es sei ein tragisches Ereignis, eine Art Naturkatastrophe. Die Beweise, die ich mit meinem Kollegen Juan Branco und mit meinen Studenten über drei Jahre hinweg gesammelt habe, zeigen aber: Die Toten sind fester Bestandteil des Plans, die Migrationsströme aus Afrika einzudämmen. Diese Politik wurde in den letzten fünf Jahren vorsätzlich entworfen und umgesetzt. Sie ist keine Tragödie: Sie ist ein Verbrechen gegen die Menschlichkeit.
ZEIT: Was genau meinen Sie damit?
Shatz: Dass wir es mit einem systematischen Angriff auf die Zivilbevölkerung zu tun haben. In diesem Fall: auf Migranten, die im Mittelmeer ertrinken oder von der libyschen Küstenwache zurück nach Libyen gebracht werden. Viele landen in Lagern, wo sie gefoltert, versklavt, vergewaltigt werden – und oft erst freikommen, wenn sie oder ihre Familien Geld zahlen.
ZEIT: Sie haben deshalb beim Internationalen Strafgerichtshof in Den Haag Klage gegen die EU eingereicht. Der Strafgerichtshof ermittelt nicht gegen Staaten, nur gegen Individuen. Wen wollen Sie zur Verantwortung ziehen? Jean-Claude Juncker? Angela Merkel?
Shatz: Ja. Spitzenpolitiker wie Juncker, Merkel oder Emmanuel Macron, aber auch die vielen Helfer auf den mittleren Ebenen der Macht: die Bürokraten in Brüssel, die Beamten in den Ministerien, die Kapitäne der Frontex-Schiffe. Und es gibt noch die Akteure in Libyen. Die Küstenwächter zum Beispiel oder die libysche Behörde, die die Lager unterhält. Gegen einige ermittelt der Internationale Strafgerichtshof bereits.
ZEIT: Wenn der Strafgerichtshof schon ermittelt, wozu Ihre Klage?
Shatz: Weil die Ermittlungen sich bislang auf libysche Täter beschränken. Wir wollen, dass sie ausgeweitet werden auf die Verantwortlichen in der EU.
ZEIT: Glauben Sie wirklich, dass der Internationale Strafgerichtshof, der Diktatoren und Warlords verurteilt, Ermittlungen gegen Merkel und Juncker einleitet?
Shatz: Mein Mitstreiter Juan Branco hat am Internationalen Strafgerichtshof gearbeitet, er weiß, wie eine Anklageschrift aussehen muss, damit sie ernst genommen wird. Wir haben drei Jahre recherchiert, haben unzählige zum Teil geheime Dokumente studiert, Experten der Vereinten Nationen und renommierte Völkerrechtsexperten konsultiert. Es ist nicht so, dass hier zwei durchgeknallte Typen auf einen Kreuzzug gegen Merkel und Macron gehen. Wir haben eine sehr solide juristische Argumentation entwickelt, die auf starken Beweisen fußt.
ZEIT: Was werfen Sie Merkel und den anderen konkret vor?
Shatz: Erstens: Mord durch unterlassene Hilfeleistung. Das betrifft die Politik der EU zwischen 2014 und 2015, nachdem die italienische Rettungsmission Mare Nostrum eingestellt wurde. Zweitens: das Outsourcen der Seenotrettung an die libysche Küstenwache und die Rückführung der Migranten nach Libyen, wo sie Opfer schwerster Verbrechen werden. Dieser zweite Punkt betrifft die aktuelle Politik der EU-Mitgliedsstaaten, die wir seit 2016 beobachten können. 2015 war die libysche Küstenwache lediglich an 0,5 Prozent der Rettungsaktionen beteiligt. Heute sind es etwa 90 Prozent.
ZEIT: Die EU lässt die Migranten nach Libyen bringen. Die Verbrechen in den Lagern werden aber nicht von EU-Politikern verübt.
Shatz: Ohne die Migrationspolitik der EU bräuchte es die Lager nicht. Die Akteure aus der EU treten natürlich nicht direkt als Täter auf. Sie nutzen die Libyer als Handlanger. Ein klassisches Muster im internationalen Strafrecht, das findet man überall.
ZEIT: Wo noch zum Beispiel?
Shatz: Wissen Sie, ein Teil meiner Familie wurde während des Holocausts getötet – von Litauern und Polen, aber die Politik dahinter stammte von den Deutschen. Oder nehmen Sie die afrikanischen Warlords, die hatten ebenfalls ihre Vollstrecker. Meist sind es einfache Soldaten und Milizionäre, kleine Leute. In unserem Fall zum Beispiel die Offiziere der libyschen Küstenwache. Im Auftrag der EU fangen sie Migranten ab und bringen sie nach Libyen zurück. Die EU schaut dabei zu, und zwar wortwörtlich. Es gibt ein Video vom November 2017. Man sieht darauf, wie die Libyer versuchen, ein Schiff der Organisation Sea-Watch bei der Rettung von Migranten zu stören. Dabei sterben rund 20 Menschen, vor den Augen der EU-Vertreter, die ebenfalls vor Ort sind. Wie in einem Theaterstück stehen sie am Rande der Szenerie: ein französisches Marineschiff, ein portugiesischer Helikopter, ein italienisches Schiff. Keiner hilft bei der Rettung. Sie schauen tatenlos zu, wie die Menschen ertrinken.
ZEIT: Wie erklären Sie sich das?
Shatz: Es gibt ein Gerichtsurteil aus dem Jahr 2012, das zu kennen in diesem Zusammenhang wichtig ist. Dafür müsste ich ein wenig ausholen.
ZEIT: Bitte.
Shatz: 2012 sprach der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte das sogenannte Hirsi-Urteil. Es ging darin um eine Gruppe von Somaliern und Eritreern, die im Jahr 2009, also noch zu Gaddafis Zeiten, von Libyen nach Italien fliehen wollten. Sie wurden von der italienischen Küstenwache gerettet, aber zurück nach Libyen gebracht. Einige von ihnen haben daraufhin gegen Italien geklagt – mit Erfolg. Das Urteil hat zwei Dinge klargestellt. Erstens: Wer im Mittelmeer Menschen rettet, darf sie nicht einfach irgendwo absetzen, sondern nur in einem sicheren Land. Zweitens: Libyen ist kein sicheres Land. Das Hirsi-Urteil galt als bahnbrechend und sollte die Rechte der Migranten im Mittelmeer stärken, aber es hatte fatale Folgen. Es war einer der Gründe, warum die EU sich auf lange Sicht von der Seenotrettung zurückzog.
ZEIT: Die EU hat doch die libysche Küstenwache aufgebaut, damit sie die Menschen rettet.
Shatz: Ja. Eine Küstenwache, die so unprofessionell ist, dass sie lange nicht mal in der Lage war, auf hoher See einen Fisch zu fangen – und die in ihren Reihen Kriminelle hat, die vom Menschenschmuggel profitieren. Wir haben die Aussage eines Zeugen, der von der libyschen Küstenwache abgefangen wurde. Bei seinem zweiten Versuch, über das Mittelmeer zu fliehen, schaffte er es nach Sizilien. Er sagt, die libyschen Küstenwächter, die ihn beim ersten Mal aufgegriffen haben, seien dieselben Leute gewesen, die ihn später auf das Schlepperboot nach Europa setzten. Die Küstenwache ist in den Menschenschmuggel involviert. Und die EU bildet diese Küstenwache aus, schickt Geld, Schiffe, Ausrüstung, für Hunderte Millionen Euro – unser aller Steuergeld.
ZEIT: Falls der Strafgerichtshof in Den Haag die Ermittlungen überhaupt einleitet: Was genau hätten Sie gegen Europas Politiker denn tatsächlich in der Hand?
Shatz: Im Fall von Angela Merkel können wir zum Beispiel zeigen, dass sie über die Zustände in Libyen sehr genau Bescheid wusste. 2017 erhielt sie eine Nachricht vom deutschen Botschafter in Niger. Er schrieb, es gebe in Libyen Lager, in denen täglich vergewaltigt und gefoltert werde. Er verglich diese Lager mit den Konzentrationslagern der Nationalsozialisten. Er hat tatsächlich diesen Begriff benutzt: Konzentrationslager. Drei Tage später hat Merkel die Erklärung von Malta unterzeichnet – jenes Flüchtlingsabkommen zwischen der EU und Libyen, das unter anderem die Rückführung der Migranten nach Libyen regelt.
ZEIT: Die deutsche Regierung hat auf Ihre Vorwürfe reagiert. Sie sagt, Deutschland habe 300 Menschen aus den libyschen Lagern befreit und ausgeflogen.
Shatz: Das stimmt. Aber was ist mit den anderen rund 40.000 Menschen, die allein zwischen 2016 und 2018 auf dem Mittelmeer abgefangen und in die Lager gebracht wurden?
ZEIT: Die deutsche Regierung sagt auch, sie wolle helfen, die Bedingungen in den libyschen Lagern zu verbessern.
Shatz: Wenn man es mit Konzentrationslagern zu tun hat, dann verbessert man dort nicht die Bedingungen – man schließt sie. Wir führen in der EU einen orwellschen Diskurs. Seit ein paar Wochen, seit im Zuge der Kämpfe in Libyen ein Lager bei Tripolis bombardiert wurde und mehr als 40 Menschen starben, plädiert die EU offiziell dafür, inhaftierte Migranten aus Libyen zu evakuieren. Gleichzeitig fängt die libysche Küstenwache weiterhin Migranten ab und bringt sie in die Lager – im Auftrag der EU. Die Lager sind eine tödliche Maschine, und die EU versorgt diese Maschine mit immer neuen Menschen.
ZEIT: Viele Europäer glauben, die Menschen müssten nach Libyen gebracht werden, damit andere nicht ermutigt werden, die gefährliche Fahrt übers Meer anzutreten.
Shatz: Das ist das Pullfaktor-Argument. Es hält sich hartnäckig, obwohl die Fakten dagegensprechen. Aber selbst wenn es den Pullfaktor gäbe, würde ich dafür plädieren, Menschen aus der libyschen Kriegszone zu befreien. Selbst wenn es Terroristen wären, die vor der libyschen Küste ertrinken, wäre ich dafür, sie zu retten – und sie dann einzusperren.
ZEIT: Was sagen Sie zu dem Argument, die Menschen in den Schlauchbooten seien Wirtschaftsmigranten, die sich freiwillig auf den Weg machten – und deshalb keine Hilfe erwarten könnten?
Shatz: Natürlich können wir, wenn wir gemütlich beim Cocktail sitzen, auch dieses Argument diskutieren. Aber wir sollten dabei eines nicht vergessen: Viele Menschen sind als Wirtschaftsmigranten nach Libyen gekommen. Aber wenn sie es aus Libyen herausschaffen, sind sie keine Wirtschaftsmigranten mehr. Sie sind Überlebende. Libyen ist ein Kriegsgebiet, in dem gefoltert, vergewaltigt und getötet wird. Was wir ebenfalls nicht vergessen sollten: Es ist keine humanitäre Geste, Menschen zu retten. Es ist unsere Pflicht. Es geht hier nicht um die politische Frage, ob wir schutzbedürftige Menschen aufnehmen wollen. Es geht um juristische Pflichten.
ZEIT: Auch diese Pflichten sind mittlerweile politisch umstritten.
Shatz: Ja, es zwingt auch niemand die EU, sich Verträgen zu unterwerfen, die das Leben von Menschen schützen. Historisch betrachtet ist es eine relativ neue Idee, nicht nur Staatsbürger, sondern Menschen per se zu schützen. Diese Idee wurde zwar in Europa erfunden, aber natürlich können die Europäer aus der Genfer Flüchtlingskonvention, die einst als Konsequenz aus dem Holocaust entstand, ohne großen Aufwand wieder austreten. Am Ende geht es um die Frage, wer wir sein wollen. Wollen wir die Menschenrechte schützen oder nicht?
ZEIT: Sie sind nicht der Erste, der die Migrationspolitik der EU verurteilt. Amnesty International hat das getan, Ärzte ohne Grenzen, die Vereinten Nationen, der Papst. Warum sollte ausgerechnet Ihre Klage etwas verändern?
Shatz: Organisationen wie Amnesty International sehen das, was in Libyen und auf dem Mittelmeer passiert, durch die Brille von Menschenrechtlern. Wir schauen es uns aus der Perspektive des internationalen Strafrechts an. Wir sagen: Was hier passiert, sind nicht nur Menschenrechtsverletzungen, es sind Verbrechen. Das ist ein großer Unterschied.
ZEIT: Der Strafgerichtshof in Den Haag ist nicht dafür bekannt, gegen westliche Verdächtige vorzugehen.
Shatz: Ja. Als die Chefanklägerin des Gerichtshofs mögliche Kriegsverbrechen der US-Armee in Afghanistan untersuchen wollte, bekam sie dafür keine Zustimmung von den Richtern. Die USA hatten Druck auf das Gericht ausgeübt. In unserem Fall stammen dagegen alle Verdächtigen aus der EU, und deren Mitgliedsstaaten haben das Statut des Gerichtshofs unterzeichnet. Deshalb kann die Chefanklägerin hier einfach ermitteln, sie muss die Richter nicht um Erlaubnis fragen. Was helfen könnte, ist die Tatsache, dass die Verbrechen, um die es geht, nicht wie üblich in der Vergangenheit liegen. Sie dauern an – auch wenn wir es oft gar nicht mehr merken. Vor wenigen Wochen erst sind vor Tunesien rund 80 Menschen ertrunken – und kaum jemand hat darüber berichtet.
ZEIT: Warum stumpfen wir so leicht ab?
Shatz: Wir gewöhnen uns daran. Wir sagen nicht: Wie konnte das passieren? Sondern: Es ist eine Tragödie, und die akzeptieren wir irgendwann. Es ist menschlich, unmenschlich zu sein. Ich komme aus Israel, unsere Gesellschaft besteht aus Flüchtlingen. Aber in Israel heißen schutzbedürftige Menschen nicht Flüchtlinge oder Asylbewerber, auch nicht Migranten. Sie heißen infiltrators, Eindringlinge. Und tatsächlich fordert ein Flüchtling ja die Souveränität des aufnehmenden Staates auf eine geradezu bedrohliche Weise heraus. Er muss erst ankommen – oder: eindringen –, bevor er das Recht hat, um Asyl zu bitten. Der Andere, der Fremde wird zur Gefahr, weil er in die Gemeinschaft eindringt.
ZEIT: Wäre es besser, wenn die Entscheidung, ob jemand in Europa bleiben darf, schon vor seiner Ankunft fällt?
Shatz: Natürlich. Die Asylpolitik der EU ist gescheitert, wir brauchen eine neue. Diese Politik fußt bislang auf dem Prinzip der individuellen Verfolgung und ist geprägt von der Zeit des Kalten Krieges, als man vor allem politische Dissidenten im Sinn hatte. In den letzten Jahren aber wurden viele Menschen nicht individuell verfolgt, sondern als Kollektiv, etwa weil sie vor einem Bürgerkrieg oder einer Naturkatastrophe fliehen mussten. Deshalb sprechen viele Experten nicht mehr von Flüchtlingen im engen Sinne der Genfer Flüchtlingskonvention, sondern von persons in need of international protection, von Schutzbedürftigen. Die Migranten, die die EU nach Libyen zurückschickt, zählen dazu.
ZEIT: Wenn der Internationale Strafgerichtshof die Ermittlungen nicht einleitet, war Ihre Arbeit dann umsonst?
Shatz: Am Ende wird nicht nur der Strafgerichtshof über diese Verbrechen richten, sondern auch die Geschichte. Und ich glaube nach wie vor daran, dass viele Menschen das Bedürfnis haben, nachts gut zu schlafen.
Foto: Kevin McElvaney; Twitter (u.)
In der Nacht auf den 22. Dezember 2016 wurden 112 Migranten auf dem stürmischen Mittelmeer gerettet
Omer Shatz (39) ist Anwalt und lehrt an der Yale University und an der Universität Sciences Po in Paris. Sein Mitstreiter Juan Branco (29) ist einer der Anwälte des WikiLeaks-Gründers Julian Assange