Die ewige Sehnsucht nach Sicherheit
Vor fünf Jahren kam die Ingenieurin Lamia Alaubaidi mit ihrem Sohn Ali aus dem Irak nach Luxemburg. Viel ist seitdem passiert: Der Umzug vom Heim in die eigene Wohnung. Ein abgeschlossenes Studium. Neue Sprachen. Doch ein eigenständiges Leben ohne Angst ist für sie bis heute weit entfernt.
Lamia Alaubaidi steht in ihrer Küche und kocht Tee. Die türkische Doppelteekanne mit rosa-goldenen Blumenmustern hat ihr ein Freund aus Istanbul mitgebracht. Mit einer beiläufigen Handbewegung gießt sie den Tee in die schlichten Gläschen. Entgegen der arabischen Tradition trinkt Lamia ihren völlig ohne Zucker.
Mehrmals entschuldigt sie sich, dass sie nichts zu Essen anbieten kann. Sie hat es nicht mehr in den Supermarkt geschafft. Es war eine anstrengende Woche, sagt Lamia. Seit Monaten schon fühle sie sich müde und ausgelaugt. Sie war bei verschiedenen Ärzten, beim Radiologen, beim Kardiologen, hat Analysen und Scans über sich ergehen lassen. Doch die Ärzte finden nicht heraus, was ihr fehlt. Sie spricht von ihrem Sohn, Ali, er hat doch nur noch sie.
Kindertraumata, Kriegs- und Fluchterlebnisse, Gewalt im Flüchtlingsheim, Zukunftsangst, jetzt die Krankheit. Sich wirklich frei und sicher zu fühlen, ist für Lamia noch immer keine Selbstverständlichkeit. Über dem Sofa hängt ein Bild mit der Aufschrift „Stop wishing, start doing!“. Es ist einer dieser am Fließband hergestellten Kunstdrucke, die einem vorgaukeln, dass doch jeder Herr seines eigenen Schicksals sei. Doch wie schwer es tatsächlich ist, einen Rückschlag nach dem anderen zu erleben und sich dennoch immer wieder neu zu motivieren, das weiß Lamia besser.
Ein Leben in Krieg und Terror
Im kriegsgebeutelten Bagdad hat sie Englisch und Ingenieurswesen studiert, sich als Frau in einem Männerberuf behauptet. Sie hat geheiratet und wurde schwanger. Später wurde sie von Terrormilizen bedroht und gedemütigt. Sie musste die Entführung ihres Mannes miterleben, seine Rückkehr von Folter und Erniedrigung ertragen. Mit ihm ist sie schließlich nach Istanbul geflohen, zurückgekehrt ist sie alleine. 2010 ist Lamia in den vermeintlich sichereren Norden des Irak umgezogen. Sie hat Kurdisch gelernt, immer viel gearbeitet und sich schließlich scheiden lassen. Angst vor Gewalt und Terror waren ihr stetiger Begleiter. Noch heute zuckt sie zusammen, wenn sie im Fernsehen Explosionen hört.
Lamia war noch ein kleines Mädchen, als 1980 der erste Golfkrieg begann. Die irakische Armee hatte das Haus, in dem sie mit ihren Eltern wohnte, in ein Krankenhaus umgewandelt. Menschen starben in ihrem Wohnzimmer, erzählt sie. Als das Haus 1986 zerbombt wurde, verlässt sie gemeinsam mit ihren Eltern ihre Heimatstadt Basra im Süden des Irak, unweit der iranischen Grenze. Zwei Kriege später und angesichts dauerhafter Terrorgefahr beschließt sie, ihre Heimat zu verlassen.
Luxemburg: ein klares Ziel vor Augen
Als Lamia mit ihrem Sohn Ali im August 2015 am Bahnhof in Luxemburg ankommt, regnet es. Die dunklen Wolken hängen tief, es ist kalt. Das Wetter passte zu ihrer Stimmung, erzählt die heute Mitte-Vierzig-Jährige. Die letzten Wochen der Flucht steckten den beiden noch tief in den Knochen. „Es ist ein Wunder, wie ein Kind sich unsichtbar machen kann, wenn Gefahr lauert“, sagt Lamia.
Irgendwann wird sie ihre Fluchterfahrungen aufschreiben dachte sie sich damals. Irgendwann, wenn ihr Leben etwas ruhiger verläuft. Doch jetzt musste sie erst einmal ankommen. Sich und ihrem Sohn ein neues Leben aufbauen. Um dem Gefühl von Sicherheit, das sie in ihrem Leben nur selten kannte, schrittweise näherzukommen.
Deswegen hat sie gezielt Luxemburg ausgewählt. Wegen der Sicherheit. Luxemburg sei kein Land, das andere Länder angreift, kein Land, das unschuldige Menschen umbringt, Luxemburg habe selbst wegen der Kriege anderer viel ertragen müssen, erzählt sie. Sie hat Bücher gelesen, kennt die Geschichte des kleinen Landes. Dass ein Neuanfang auch hier nicht leicht werden würde, darauf war sie eingestellt. Doch dass sie in den ersten zwei Jahren in Luxemburg so stark an ihre Grenzen stoßen würde, konnte sie sich zum damaligen Zeitpunkt noch nicht vorstellen.
Leiden im Flüchtlingsheim
Nach mehreren Monaten im Flüchtlingsheim Lily Unden in Limpertsberg wurden sie und ihr Sohn nach Redingen gebracht. Sie kamen in das Flüchtlingsheim Félix Schroeder, das ausschließlich Frauen und Kindern vorbehalten ist. „Es war furchtbar“, erinnert Lamia. Alt und klein sei das Zimmer gewesen, es gab Platz für nur ein Bett.
Doch es waren vor allem die strengen Hausregeln, die oft gewalttätigen Auseinandersetzungen zwischen Bewohnerinnen und das Verhalten des Sicherheitspersonals, das Lamia und ihrem Sohn zusetzten. „Sie behandelten uns wie Gefangene, Ali durfte sich abends nicht draußen aufhalten, obwohl er im Zimmer kein Internet hatte. Und ich musste die ganze Zeit putzen. Sie schauten zu, wie ich den Boden schrubbte. Oft habe ich deswegen morgens den Bus zur Sprachschule verpasst“, erzählt Lamia.
Sie mussten da raus. Lamia und Ali sind ungerecht behandelt worden.“Manou Pianon, Sozialarbeiterin
Das Rote Kreuz, das das Flüchtlingsheim in Redingen führt, weist Vorwürfe gegen das Verhalten des Sicherheitspersonals zurück. „Wir haben gute Erfahrungen mit dem in Redingen tätigen Sicherheitsunternehmen“, heißt es aus der Direktionsabteilung der Hilfsorganisation. Auch die Leiterin des Flüchtlingsheims, Klodiana Calliku, schreibt auf Nachfrage: „Uns sind keine Gewaltsituationen im Kontext mit Lamias Aufenthalt bekannt.“ Die Beziehungen zwischen – in diesem Foyer ausschließlich weiblichem – Sicherheitspersonal und Einwohnern seien im Allgemeinen respektvoll. Sollten sich dennoch einmal Spannungen entwickeln, würden Führungskräfte eingreifen und die Situation im Dialog lösen.
Hoher Preis für das ersehnte eigene Heim
„Sie mussten da raus“, sagt hingegen Manou Pianon. „Lamia ist ungerecht behandelt worden, die Geschichten von aufgezwungenem Putzen erzählte sie mir oft“, erinnert sich die Sozialarbeiterin, die sich damals um Lamia und ihren Sohn kümmerte, mittlerweile jedoch nicht mehr für das Rote Kreuz arbeitet. Sie habe damals sogar den Ombudsmann für Kinderrechte eingeschaltet. Doch selbst mit psychologischem Gutachten sei nichts passiert.
Wenn Manou Pianon von Lamia spricht, ist sie voller Bewunderung, beschreibt sie als stark und mutig, als eine, die sich nichts bieten lässt. Gut ausgebildet, belesen, charakterstark. Und alleinerziehend. Lamia habe sich immer furchtbar aufgeregt über die Stolpersteine, die ihr in den Weg gelegt wurden. Bei der Suche nach Arbeit, auf dem Wohnungsmarkt oder beim Kämpfen um einen Platz im Hort für Ali. „Am Telefon hat sie mich auch mal angeschrien, und dann, als wir uns sahen, haben wir uns in den Arm genommen und Lamia hat sich entschuldigt“, erzählt die Sozialarbeiterin.
Letztlich war es Manou Pianon selbst, die eine Alternative für Lamia und ihren Sohn fand. Sie setzte sich dafür ein, dass das Rote Kreuz für Lamia eine Mietbürgschaft ausstellte und fand auf dem privaten Wohnungsmarkt eine kleine Einzimmerwohnung in Esch/Alzette. Das Datum wird Lamia nie vergessen: Am 7. Juli 2017 zog sie mit ihrem Sohn ins Minett, wo sie auch heute noch leben. Die Miete sei mit 1.200 Euro im Monat zwar eigentlich zu hoch, doch endlich konnte „das Leben beginnen“, wie Lamia sagt.
Bildung muss man sich leisten können
Simone Harion kann sich noch gut an ihr erstes Treffen mit Lamia erinnern. Mit kritischer Haltung stand sie in ihrem Büro, fragte, was „Zarabina asbl“ ihr denn bieten könne. Denn sie habe keine Zeit mehr zu verlieren. Heute ist Lamia dem Verein, der Menschen durch Beratungen und Weiterbildungen hilft, sich auf dem Arbeitsmarkt zu orientieren, sehr dankbar. Sie nahm an dem Workshop „Work Integration Luxembourg“ teil und kam mit einem Aktionsplan heraus, den sie gemeinsam erarbeitet hatten.
Lamia wusste, dass sie noch einmal studieren möchte und schrieb sich für den Master-Studiengang „Entrepreneurship and Innovation“ an der Universität Luxemburg ein. Nach den geltenden Gesetzen verlieren Flüchtlinge, die sich an der Universität anmelden, ihr Recht auf das „Einkommen zur sozialen Eingliederung (REVIS)“ von knapp 1.500 Euro monatlich, samt der daraus resultierenden sozialen Leistungen wie Wohngeld oder Krankenversicherung. Als Studierender stand Lamia nur noch eine staatliche Studienbeihilfe in Höhe von 600 Euro monatlich zur Verfügung. Trotz Nebenjob im Marketing an der Uni reichte das Geld hinten und vorne nicht.
Mäzenatentum und Unterstützung
Es war schließlich der „Lions Club Esch“, der Lamia die zwei Jahre lang half, finanziell über die Runden zu kommen. Sie erhielt ein Stipendium, das der Unternehmer-Club jedes Jahr an vier Geflüchtete vergibt. „Die Idee und das Geld kommen von uns, die Auswahl trifft aber die Universität“, sagt Alex Bernard vom Lions Club. Hier gehe es schließlich nicht um persönliche Präferenzen. Lamia als alleinerziehende Mutter habe die Unterstützung mehr als verdient. „Unser Geld kommt da an, wo es wirklich gebraucht wird“, sagt Alex Bernard.
Sie hat immer 150 Prozent gegeben. Ich ziehe meinen Hut vor ihr.“Mickael Geraudel, Dozent an der Uni Luxemburg
Lamia ist anzumerken, dass ihr die finanzielle Abhängigkeit unangenehm ist. Sie nahm das Geld trotzdem und stürzte sich in ihr Studium. Irgendwann wird sie selbstständig sein und die Hilfe anderer nicht mehr brauchen. Das sagt sie sich immer wieder.
„Sie hat immer 150 Prozent gegeben“, erzählt auch Mickael Geraudel, Lehrstuhlinhaber des Studiengangs. „Ich ziehe meinen Hut vor ihr“, sagt der Professor, der seine Studierenden gut zu kennen scheint. Lamia habe sich immer in einer Ausnahmesituation befunden, als Geflüchtete, dazu noch alleinerziehend. Manchmal sei es schwierig gewesen, sie habe sich alles sehr zu Herzen genommen. „Als sie einmal ein Examen im Finanzwesen nicht auf Anhieb packte, war sie am Boden zerstört“, erinnert sich Mickael Geraudel. „Es hat viel Zeit und Mühe gekostet, sie wieder aufzubauen.“
Ein Studium und eine neue Leidenschaft
Ihre Abschlussarbeit schrieb Lamia über die „Optimierung des öffentlichen Transportes in Luxemburg“. Sie setzt sich auf, ist plötzlich ganz wach und beginnt einen Vortrag über die Gesetzeslage zum Datenschutz in Luxemburg. Über die Schwierigkeiten, in einem kostenlosen Transportsystem dennoch an Daten zu kommen, um das Angebot zu verbessern. Darüber, warum dieser Forschungsbereich zukunftsfähig und lukrativ ist. „Daten sind das neue Öl“, sagt sie und grinst. Das erste Mal seit Beginn des Gesprächs.
Ich habe immer noch Angst, dass man uns hier findet und wir eines Tages zurück müssen.“Lamia Alaubaidi
Daniel Baum ist Stadt- und Regionalplaner bei dem Bauingenieurunternehmen „Schroeder Associés“ in Kockelscheuer. Er hat Lamia während eines sechsmonatigen Praktikums zur Fertigstellung ihrer Abschlussarbeit unterstützt. Sie sei eine Vermittlerin, sagt er. „Sie versteht es, innovative Instrumente der Informatik mit den Herausforderungen der smart mobility zu verbinden“, sagt er. Damit sei sie ihrer Zeit ein kleines Stückchen voraus. Auf die Frage, warum das Unternehmen sie nach Abschluss ihres Studiums nicht übernommen habe, antwortet der Ingenieur: Es gebe leider noch nicht genug Kundenanfragen, ihre Einstellung würde sich für das Unternehmen noch nicht rentieren.
Andauernde Ängste und Hoffnungen
Lamia kann sich durchaus vorstellen, einmal in diesem Bereich zu arbeiten. Sie möchte sich selbstständig machen. Ihr eigenes Unternehmen aufzubauen und von niemanden mehr abzuhängen, davon träumt sie schon lange. Doch die Zeit ist noch nicht reif dafür. „Solange wir Geflüchtete sind, sind wir in Gefahr“, sagt sie und wird plötzlich wieder ganz ernst. „Wir wissen nicht, was die Politik von einem Tag auf den anderen entscheiden wird“, sagt sie. „Ich habe immer noch Angst, dass man uns hier findet und wir eines Tages zurück müssen“.
Die einzige Möglichkeit, um diese Gefahr zu bannen, sieht Lamia in dem Erwerb der luxemburgischen Staatsbürgerschaft. Deshalb besucht sie gerade täglich Luxemburgischkurse, arbeitet an ihrer Aussprache, lernt Vokabeln. Sie muss den Sprachtest bestehen. Aber Luxemburgisch sei so schwierig, sagt die Frau, die Arabisch, Kurdisch, Türkisch, Englisch und Französisch spricht.
Auch ihr Sohn Ali träumt davon, sein eigenes Business aufzubauen. Den Ehrgeiz hat sie ihm bereits weitervermittelt. Ali möchte Computerspiele designen. Noch lieber aber möchte er wegfliegen. Ganz weit weg. Ins Weltall, mit Elon Musk, dem Raketen-Chefdesigner und CEO des Raumfahrtunternehmens SpaceX. „Er ist sein Idol, sein Vorbild“, erzählt Lamia. Einen richtigen Vater habe er schließlich nie gehabt.
Lamia wird mit vielem fertig, findet Lösungen, wo andere längst aufgegeben hätten. Einen fehlenden Vater zu ersetzen, ist jedoch auch für sie, wie wohl für alle alleinerziehenden Mütter, ein schmerzlicher Kampf gegen Windmühlen.