Emile Eicher: „Wir wollen keine Ghettos haben“
Aufnahme von Flüchtlingen
Die Flüchtlingsunterkünfte sind zurzeit vollständig ausgelastet. Was die Gemeinden akut unternehmen können, um die Aufnahmestrukturen zu entlasten, bespricht Syvicol-Präsident Eicher im Interview.
Luxemburger Wort 7 November 2023
Nur in rund einem Drittel der Gemeinden hierzulande befinden sich Aufnahmestrukturen für Flüchtlinge. Währenddessen sind diese Strukturen allesamt an ihre Grenzen gestoßen. Seit dem 20. Oktober hat Immigrationsminister Jean Asselborn (LSAP) Aufnahmebegrenzungen für junge alleinstehende Männer, die in einem anderen EU-Land bereits einen Asylantrag gestellt haben, bekannt gegeben. Seitdem stand nicht nur Asselborn in der Kritik, sondern ebenso die Gemeinden. Diese hätten sich laut Flüchtlingsrat nicht genug an der Aufnahme von Flüchtlingen beteiligt. Syvicol-Präsident Emile Eicher erklärt im „Wort“-Interview, was die Gemeinden akut mehr tun können, um die Aufnahmestrukturen zu entlasten und ob sie Aufnahmequoten von Flüchtlingen unterstützen.
Emile Eicher, die Aufnahmestrukturen für Flüchtlinge sind zurzeit überfüllt, weswegen Dublin-Geflüchtete auf der Straße schlafen müssen. Was machen die Gemeinden indessen?
Wir haben mit dem zuständigen Minister geredet. Wenn die Aufnahmestrukturen die Grenzen ihrer Kapazität erreicht haben, dann liegt das auch daran, dass über 40 Prozent der Menschen, die dort wohnen, einen internationalen Schutzstatus bereits verliehen bekommen haben. Es handelt sich nicht mehr um Asylsuchende, sondern um Asylberechtigte. Sie sind Einwohner wie alle anderen und müssen sich nun auf dem Immobilienmarkt umschauen, um ein Dach über dem Kopf zu finden. Sie sind dabei in Konkurrenz mit anderen Menschen, die ebenso auf der Suche nach erschwinglichem Wohnraum sind. Und der Druck nimmt jedes Jahr zu.
Die Gemeinden verfügen nur über eine überschaubare Anzahl an Sozialwohnungen, welche in der Regel belegt sind. Es traut sich zurzeit niemand, eine Wohnung leer stehen zu lassen, mit Ausnahme von Sozialwohnungen, die kurzfristig verfügbar sein müssen, wenn z. B. ein Wohnungsbrand ausbricht und Menschen untergebracht werden müssen.
Was könnten Gemeinden konkret kurzfristig unternehmen, um die Aufnahmestrukturen zu entlasten?
Eine Gemeinde kann nicht einfach etwas bauen. Wir brauchen zuerst die dafür notwendigen Mittel. Das Problem der Flüchtlinge ist zudem ein nationales Problem. Wir wissen alle, wie schwierig die Lage auf dem nationalen Wohnungsmarkt ist. Um Abhilfe zu schaffen, müssen die Prozeduren vereinfacht werden. Wie es beispielsweise für den Bau von sogenannten Tiny Houses der Fall ist, zu dem das Innenministerium Vorschläge unterbreitet hat. Ich denke nicht an Tiny Houses als Lösung per se, aber viel eher an die Idee, auf unbebautem Terrain Modulbauten zu errichten. Das geht schnell, meiner Meinung nach.
Wie schnell?
Das hängt vom Markt ab. Prozeduren, Umklassierungen, es müsste zudem dichter gebaut werden. Das braucht Zeit.
Von welcher Zeitspanne reden wir?
Die Umklassierung des Grundstücks kann ein gutes Jahr dauern. Außer, wenn wir, wie gesagt, diese Prozeduren beschleunigen. Das wäre einfacher. Trotzdem sprechen wir hier von einem Tropfen auf dem heißen Stein. Man muss sich nach anderen Möglichkeiten umschauen. Der Staat besitzt zum Beispiel viele Gebäude, die nicht bewohnt sind, wo in der Zwischenzeit nicht viel vorangekommen ist. Die Baubranche steckt in einer Krise. Die Auftragsbücher sind leer für kommendes Jahr. Einige Akteure mussten bekanntlich bereits Insolvenz anmelden. Kleine und Mittelbetriebe suchen verzweifelt nach Arbeit. Das könnte deren Lage zumindest ein wenig entschärfen.
Was nicht geht, ist, dass Gemeinden bestimmte Menschen prioritär behandeln. Dann ist der soziale Clash vorprogrammiert.
Rund ein Drittel der Gemeinden verfügt über Aufnahmestrukturen für Flüchtlinge. Warum nicht mehr?
Ich kenne diese Liste. Ich verstehe sie aber nicht. Mit meiner Gemeinde Clerf stehen wir beispielsweise nicht darauf. Wir haben aber seit Jahren Flüchtlinge in Person von unbegleiteten Kindern bei uns beherbergt, die von der Caritas betreut werden. Wir stehen nicht auf der besagten Liste. Das müsste man nochmal hinterfragen, was mit dieser Auflistung der Gemeinden gemeint ist. Handelt es sich um Strukturen für Asylbewerber oder Asylberechtigte? Wenn man über Flüchtlinge spricht, muss man präzisieren, denn bei beiden sind die Lösungsansätze verschieden.
Die Zahlen sind also nicht akkurat und eigentlich nehmen mehr als ein Drittel der Gemeinden Flüchtlinge auf?
Ich weiß nicht, ob diese Zahlen akkurat sind. Es kann sein, dass es sich bei den Zahlen rein um Asylberechtigte handelt.
Jean Asselborn hat dem „Luxemburger Wort“ erzählt, er habe vor Jahren dem Syvicol den Vorschlag unterbreitet, Minimalstrukturen in kleineren Gemeinden aufzubauen. Auf rund zehn Ar könnten Strukturen für 35 Menschen entstehen. Alles vom Staat bezahlt. Warum haben die Gemeinden dieses Angebot nicht angenommen?
Wir sprechen hier von Strukturen für Asylbewerber. Der Minister möchte, dass die Gemeinden Asylberechtigte bei sich aufnehmen, damit in den Aufnahmestrukturen wieder Platz geschaffen wird für Asylbewerber.
Wenn jede Gemeinde Minimalstrukturen für 35 Menschen gebaut hätte, wären die Strukturen allerdings nicht überfüllt.
Dass Asylbewerber einen Platz kriegen, ist nicht die erste Sorge des Ministers, sondern es geht um Asylberechtigte. Zu Beginn gab es eine Anfrage, dass wir 600 Asylbewerber in den Gemeinden unterbringen. Die Leute sind aber auf die Barrikaden gegangen, um es mal so zu formulieren. Wir hatten daraufhin ein Treffen anberaumt, wo nur noch die Rede davon war, 300 Menschen aufzunehmen. Das war immer noch zu viel. Es ist gut, wenn Strukturen kleiner und übersichtlicher sind, das würde allerdings andere organisatorische Rahmenbedingungen bedeuten als es momentan der Fall ist.
Warum haben die Gemeinden solche Strukturen nicht über die letzten Jahre bauen lassen?
Wie gesagt, Asylbewerber würden alle in den aktuellen Strukturen unterkommen, das ist nicht das Problem. Hätten die Asylberechtigten die Strukturen verlassen, dann hätten alle Asylbewerber ein Dach über dem Kopf. Wenn wir über Flüchtlinge, die ihren internationalen Schutzstatus bereits erhalten haben, reden, dann müssen wir über die Wohnungsbaufrage sprechen. Denn dort drückt der Schuh erheblich. Was den sozialen Wohnungsbau angeht: Ab dem Moment, in dem jemand der Gemeinde seine Wohnung verkauft und diese dann vermietet, muss sie diese Wohnung auch verwalten. Kleine Gemeinden haben diese Kompetenz nicht oder nur unzureichend und es fehlt ihnen das dafür notwendige Personal.
Wie steht der Syvicol zu Aufnahmequoten für Gemeinden, damit Flüchtlinge über mehr Gemeinden verteilt werden?
Es genügt nicht zu sagen, dass wir Quoten brauchen. Niemand weiß dann, wie er diese umsetzen soll. Man muss zuerst an die Umsetzung denken. Eine Verteilung an sich finde ich gar nicht so falsch. Man muss schauen, die Menschen nicht nur in gewissen Gemeinden zu sammeln. Wir wollen keine Ghettos haben. Asylberechtigte sind unsere Bürger und müssen in den Gemeinden unterkommen. Wir dürfen aber keine soziale Konkurrenz schaffen zwischen denen, die jetzt bereits nach erschwinglichem Wohnraum suchen und Asylberechtigten. Das muss vermieden werden. Was nicht geht, ist, dass Gemeinden bestimmte Menschen prioritär behandeln. Dann ist der soziale Clash vorprogrammiert.
Man hört heraus: Sie sind also nicht für Quoten?
Quoten ist ein hartes Wort – eher eine seriöse Aufteilung. Dass Gemeinden unter sich Asylberechtigte aufteilen, dafür würde ich die Tür offenlassen. Wenn aber Gemeinden neue Missionen zugeteilt bekommen, müssen sie die notwendigen finanziellen Mittel vom Staat zur Verfügung gestellt bekommen. In dem Fall kriegen wir die Mittel nicht.
Rund 3.000 Ukrainer sind in Privatfamilien untergekommen. Diese bemängeln in einem Brief an die Parteien, dass sie aufgrund der Mehrkosten ins Strampeln kommen und sich Steuererleichterungen wünschen. Warum geben ihnen die Gemeinden nicht das, was sie brauchen?
Es ist eine Frage der kommunalen Autonomie. Gemeinden können gegebenenfalls Zuschüsse geben, sind aber nicht dazu verpflichtet. Das hängt mit den finanziellen Begebenheiten der Gemeinden zusammen. Für etwaige Steuererleichterungen ist der Staat zuständig.
Ob die Gemeinden und das Syvicol in ihren Forderungen gehört werden, hängt mit den Entscheidungen der neuen Regierung zusammen. Wird die zukünftige Koalition die Doppelmandate abschaffen?
Was die neue Regierung entscheidet, weiß ich nicht. Meine Einschätzung: Um schneller auf diesen Weg zu kommen, müssen wir auf alle Fälle das vom Syvicol seit Langem geforderte Statut des „Élu local“, das Kommunalpolitiker arbeits- und sozialrechtlich absichert, einführen. Das haben wir bislang in Luxemburg nicht, wie es in Belgien oder Deutschland der Fall ist. Wir sollten auch Fusionen zwischen den Gemeinden unterstützen. Sonst hat man große Gemeinden und daneben die Hälfte unter 3.000 Einwohner. Wir müssen unbedingt einen Ausgleich finden.
Werden die Gemeinden in der Chamber auf taube Ohren stoßen, sobald Doppelmandate abgeschafft werden?
Ich sage jetzt etwas, was manche nicht gerne hören. Egal bei welchen Parteien: Man merkt schnell, ob man mit einem Politiker zu tun hat, der nah an den Menschen ist und „um Terrain schafft“ oder jemand, der das Ganze mehr makroökonomisch betrachtet, um es mal so zu formulieren.
Der zukünftige Premier Luc Frieden hat keine Gemeindeerfahrung. Beunruhigt Sie das?
Nein, er ist der richtige Mann, aber das sage ich als CSV-Politiker.
Um sich mehr Gehör zu verschaffen, fordern Sie die gesetzliche Verankerung der Anhörung des Syvicol bei Gesetzesvorhaben. Würde eine solche Forderung den Gesetzgebungsprozess nicht in die Länge ziehen?
Wir sind mit unseren Gutachten immer sehr schnell zur Stelle. Es liegt nicht an uns, wenn Dossiers zwei Jahre brauchen. Der Staatsrat müsste andere Mittel kriegen, um schneller zu reagieren.
Wenn wir ein Problem von ‚armen‘ und ‚reichen‘ Gemeinden haben, liegt das Problem eindeutig bei den Gemeindefinanzen.
Immer wieder sprechen Sie davon, dass die Gemeinden die notwendigen Mittel zur Verfügung gestellt bekommen sollen. Wie zufrieden sind Sie mit der aktuellen Gemeindefinanzierung?
Ich gehe davon aus, dass die neue Regierung die Finanzierung der Gemeinden unter die Lupe nehmen wird. Es gibt Gemeinden, die sich darüber beklagen, dass sie nicht genug Mittel haben. Man muss schauen, wie das Geld aktuell verteilt ist und wo die Prioritäten der Gemeinden liegen. Das hängt zudem mit der Subventionspolitik zusammen. Wir als Syvicol sind jedenfalls der Meinung, dass wir andere Wege gehen müssen.
Welche Wege sind gemeint?
Eine angepasste Indexierung der Subventionen. Wenn Sie eine Schule bauen, die 40 Millionen Euro kostet, muss vorgeplant werden. Bis die ganzen Prozeduren vorbei sind, zwischendurch Krisen auf uns zukommen, dann sind wir plötzlich bei 50 Millionen. Wir haben aber eine Zusage für 40 Millionen gehabt. Mit der Anpassung des Bauindex hätten die Gemeinden mehr Planungssicherheit. Oder die Begrenzung der finanziellen Beteiligung des Staates an Plätzen in Betreuungsstrukturen. Momentan sind es 15.000 Euro pro Platz. Ein Platz kann aber bis zu 40.000 oder 50.000 Euro kosten. Man bräuchte eine Benchmark oder einen Mechanismus, der den Gemeinden entgegenkommt. Zudem haben wir ein Problem mit der Verteilung von Subventionen. Wenn wir ein Problem von „armen“ und „reichen“ Gemeinden haben, liegt das Problem eindeutig bei den Gemeindefinanzen. Dann muss man die Ursache bekämpfen.
Was sind die drei Prioritäten, die der Syvicol der neuen Regierung ans Herz legen möchte?
Wie es die Verfassung vorgibt, müssen die Gemeinden, wenn ihnen neue Missionen erteilt werden, die dafür notwendigen finanziellen Mittel zur Verfügung gestellt bekommen. Das ist uns wichtig. Zudem sollen die gewählten Gemeindepolitiker ein Statut erhalten, das ist momentan ein großes Defizit. Und die Vereinfachung von Prozeduren. Auch, was die Digitalisierung anbelangt, müssen wir weiterkommen und dabei Menschen, die keinen Zugang zu den neuen Technologien haben, nicht auf der Strecke lassen.
Was ist der Unterschied zwischen Asylbewerbern und Asylberechtigten?
Ein Asylbewerber (DPI, Demandeur de Protection internationale) ist eine Person, deren Antrag auf internationalen Schutz registriert wurde, und auf den Bescheid über einen positiven oder negativen Asylantrag wartet.
Ein Asylberechtigter (BPI, Bénéficiaire de Protection internationale) ist eine Person, die einen positiven Bescheid erhalten hat, und somit bereits über einen internationalen Schutzstatus verfügt.