Dublin-Verfahren: Wohin, wenn das Asyl verwehrt wird?
| Woxx
Die EU-Asylpolitik legt die Priorität auf Abschiebung, auch intern zwischen den EU-Staaten. Dabei wird die Ausnahmeregelung, die jedem EU-Staat zusteht, nur in wenigen Fällen angewendet. Erzählung einer Familie, die Zuflucht sucht.
Die Polizist*innen kommen um sieben Uhr morgens. Ohne Vorwarnung. Die vierköpfige Familie Sedova* trifft es trotzdem nicht unerwartet. Seit Wochen gehen sie mit der Angst im Nacken ins Bett, in jedem Moment abgeschoben zu werden. Nachdem die Familie nach Beginn des Ukraine-Krieges in ihrer Kleinstadt in Russland bedroht wird, flüchtet sie im Sommer 2022 nach Frankreich, wo ihr Asylantrag jedoch zurückgewiesen wird. Asylsuchend flüchtet sie im Januar dieses Jahres weiter nach Luxemburg. Doch unter dem sogenannten „Dublin-III-Abkommen“ ist Frankreich für ihren Fall zuständig, die Familie muss zurück. Am Morgen ihrer Abschiebung werden die Habseligkeiten der russischen Familie eilig gepackt, die anschließende Fahrt im blau-rot-weißen Auto ist kurz. Nach etwa 30 Minuten sind sie am Ziel: Thionville. Die Polizei wurde beauftragt, die Familie nur knapp über die Grenze zu bringen, auf französischen Boden.
Ihre Abschiebung ist nicht die erste dieses Jahres; von Januar bis Ende Mai 2024 wurden laut Angaben der Immigrationsdirektion 89 Personen in einen anderen EU-Mitgliedstaat abgeschoben. Während der schnellen Prozedur des Dublin-Verfahrens werden individuelle Vulnerabilitäten oft nicht berücksichtigt ‒ die Familie Sedova ist da kein Einzelfall. Die psychologischen Auswirkungen und das Risiko der Ausbeutung von Asylsuchenden sind enorm. Dennoch steigen seit einem Rückgang im Jahr 2020 die Anzahl der Abschiebungen aus Luxemburg erneut langsam an (siehe Graphik).
Der Fall „Dublin“
25. Januar 2024.
Natalia* und Alexander* Sedova kommen zusammen mit ihren beiden Kindern Ludmila* und Peter* in Luxemburg an. Im Polizeikommissariat wird schnell klar: Die Familie hat schon einen ersten Asylantrag in Frankreich gestellt. Einen erneuten dürfen sie in Luxemburg zwar stellen, doch sie werden als Dublin-Fall klassifiziert und ihr Antrag nicht geprüft.
Denn laut der im Jahr 2013 abgestimmten Dublin-III-Verordnung des Gemeinsamen Europäischen Asylsystems ist der erste Staat, in dem Asylsuchende ankommen, für die Überprüfung ihres Asylantrags zuständig. Unter der Verordnung werden bei der Ankunft jeder Zuflucht suchenden Person die Fingerabdrücke genommen. Die werden in die EU-weite Datenbank „EURODAC“ gespeist, mit der Mitgliedstaaten identifizieren können, in welchem Staat ein*e Asylsuchende*r als erstes im System registriert wurde. Das Ziel: Verhindern, dass mehrere Anträge in verschiedenen Staaten eingereicht werden. Die Auswirkungen vor Ort werden allerdings seit Jahren scharf von Menschenrechtsorganisationen kritisiert: Die Verordnung führe zu einer ungleichen Verteilung der Asylbewerber*innen auf Erstankunftsländer in den Mittelmeer- und Balkanregionen und ermutige die Priorisierung der Abschiebungen (woxx 1548).
Laut Anke Vandereet, der Beauftragten für Menschenrechte der NGO Passerell, werden Personen, die sich im Dublin-Verfahren befinden, „anders betrachtet als andere Asylbewerber“. Oft werfe man ihnen vor, das System ausnutzen zu wollen. Gleichzeitig würden häufig ihre Grundrechte nicht respektiert. Die persönliche Anhörung etwa, während der Asylbewerber*innen ihren Antrag begründen müssen, verlaufe bei vielen Dublin-Fällen sehr schnell. Natalia und Alexander Sedovas Anhörungen dauerten gerade mal 20, beziehungsweise 30 Minuten. Dies reiche bei Weitem nicht aus, weder um die Gründe für eine Flucht zu rechtfertigen, noch um einzelne Vulnerabilitäten der Personen zu erkennen, bemängelt Anke Vandereet im Gespräch mit der woxx.
„Es ist ziemlich selten, dass eine Überstellung nicht fristgerecht durchgeführt wird, vor allem, wenn es sich um ein Nachbarland handelt. Es gibt eine gewisse Priorität.“
Obschon das Gesetz vom 18. Dezember 2015, das das Dublin-III-Abkommen in Luxemburg umsetzt, schutzbedürftigen Personen besondere Garantien zuspricht, „wurde bisher kein Verfahren eingeführt, um solche Personen zu erkennen“, so die Menschenrechtsbeauftragte weiter. Folglich „sind es eher Personen von außen, etwa Anwälte oder Erzieher“, die Vulnerabilitäten in gewissen Fälle erkennen und das Ministerium benachrichtigen müssen. Deshalb solle ein „multidisziplinäres Team, das in Psychologie, Medizin, Kinderschutz, geschlechts- und LGBTQIA-spezifischer Gewalt und ihren Rechten geschult ist“, die Asylprozeduren begleiten.
Schon in Frankreich, wo die Familie am 26. August 2022 ankam, fühlte sich die Anhörung für die Sedovas mit dem Office français de protection des réfugiés et apatrides (OFPRA) zu kurz an. Die Gespräche der Eltern dauerten bis zu zwei Stunden, doch Natalia, die in Russland offen den Oppositionspolitiker Alexei Navalny unterstützte, kam mit dem Gefühl heraus, überhaupt nichts gesagt zu haben. „Ich dachte immer wieder, es gäbe später eine Möglichkeit geben, alles zu erklären, doch dann war das Interview vorbei.“ Vor allem bedauert sie, dass das OFPRA „keine Frage über die Kinder“ stellte. Unter dem Abschnitt „Craintes éventuelles des enfants mineurs“ des Fragebogens, das zur Protokollierung der Anhörung genutzt wird und dessen Kopie der woxx vorliegt, steht nichts.
Dabei haben die Eltern gerade um die Kinder Angst. In der russischen Kleinstadt, in der die Familie vor ihrer Flucht lebte, zog sie wegen ihrer anti-Regime Meinungen negative Aufmerksamkeit auf sich. „Jeder kennt dort jeden“, fasst es Natalia zusammen. Im Laden des Paares tauschten sich die Eltern regelmäßig mit der Kundschaft aus. Mit dem Großangriff Russlands auf die Ukraine im Februar 2022, fühlte sich die Familie ukrainischen Ursprungs jedoch zunehmend unsicher: In der Schule ermutigten die Lehrer*innen ihre Schüler*innen bald dazu auf, nicht mit Ludmila und Peter zu reden. „Ich verlor alle meine Freunde“, sagt Ludmila. Ihr Vater Alexander wurde auf eine provisorische Liste zum Militärdienst eingetragen. Eines Tages stattete ein Polizist dem Familienladen einen Besuch ab: „Er hat uns gedroht, gesagt, wir sollten unseren Mund halten oder wir würden den Laden verlieren“, sagt Natalia.
In den Sommerferien, vor den Einberufungen des Herbstes, in denen Alexander befürchtet, an die Front geschickt zu werden, nehmen die mit einem kurzfristigen Visum ausgestatteten Sedovas erst einen Zug nach Sankt Petersburg und ein Taxi nach Finnland, dann einen Flug nach Paris. Die Familie ist nicht die einzige: Im gleichen Jahr ist die Anzahl der Asylanträge russischer Staatsangehöriger*innen in Frankreich verglichen mit dem vorherigen Jahr um 418 Prozent gestiegen.
Priorität auf Abschiebung
16. Februar 2024.
Drei Wochen nach ihren Gesprächen mit den luxemburgischen Polizei- und Immigrationsbehörden beantragt Luxemburg die Überstellung nach Frankreich. Ab nun hat Luxemburg laut dem Gesetz vom 18. Dezember 2015 sechs Monate Zeit, um die Familie nach Frankreich abzuschieben. Je nach Zeitpunkt variiert diese Frist: Im Mai beispielsweise dauerte die Verlegung im Durchschnitt sieben Monate. „Die Dauer der Organisation der Überstellung hängt immer vom Bestimmungsort, der Anzahl der zu überstellenden Personen und der Kooperation des Bestimmungsmitgliedstaates ab“, so die Immigrationsdirektion auf Nachfrage der woxx.
Die Familie legt Einspruch ein. Ihre Chancen stehen jedoch schlecht. „Es ist ziemlich selten, dass eine Überstellung nicht fristgerecht durchgeführt wird, vor allem, wenn es sich um ein Nachbarland handelt“, erklärt Vandereet der woxx. „Wir stellen fest, dass es eine gewisse Priorität gibt.“
Zurück nach Frankreich wollen die Sedovas nicht, nicht zuletzt weil sowohl ihr Asylantrag im Juni 2023 als auch ihr Einspruch im Januar 2024 abgelehnt wurden. Der Grund: Laut dem Urteil der französischen Behörden gebe es nicht genügend Beweise für eine individuelle Verfolgung in Russland, die eine Asylgenehmigung rechtfertige. Dokumente und Fotos, die etwa Natalias finanzielle Unterstützung politischer Oppositionelle bezeugen, reichten demzufolge „nicht aus, um ihre individuellen und aktuellen Ängste zu bestimmen“, so der Entscheid. Auch das Risiko einer militärischen Einberufung gilt nicht, denn noch habe Alexander keine offizielle Einberufung erhalten.
Offiziell stuft die französische Regierung Russland nicht als „sicheres“ Herkunftsland ein ‒ was etwa ein Schnellverfahren rechtfertigen würde ‒ doch die Familie wirft den Behörden vor, die Lage in Russland zu unterschätzen. „Ich habe das Gefühl, dass sie unsere Ängste nicht ernst genommen haben“, kommentiert Natalia den Gerichtsbescheid. „Die Menschen sehen Russland immer noch so, wie vor 2014, ein Land, in dem demokratische Institutionen und Rechtsstaatlichkeit vorherrschen. Das mag so erscheinen, aber sobald man nicht der Regierungslinie folgt, kann es schnell gehen.“
Ohne Aufenthaltsgenehmigung in Frankreich, droht der Familie die Abschiebung zurück nach Russland. „Wir haben das Gefühl, eine Mauer vor uns zu haben“, beschreibt Natalie die enorme mentale Belastung. Ihr Leben sei zu einer konstanten Unsicherheit geworden. Dabei hofft die Familie „auf ein normales Leben, mit dem Recht, zu arbeiten, und in Sicherheit wieder in die Schule zu gehen“.
Einleben in Luxemburg
Nach ihrer Ankunft in Luxemburg ist dies für die Kinder, wenn auch nur kurz, der Fall. Montags bis freitags geht es in eine Schule in Mersch, dienstags in den Theaterklub und samstags in die Kalinka-Schule, die russische Sprachkurse anbietet. Ludmila und Peter schließen Freundschaften. Anstatt in die oftmals scharf kritisierte „Structure d’hébergement d’urgence Kirchberg“, wo vom Dublin-Verfahren betroffene Männer untergebracht werden, kommen Dublin-Fälle mit minderjährigen Kindern meistens im „Centre d’accueil provisoire“ in Mersch unter. Die Sedovas jedoch werden als eine von 98 Familien im „Centre primo-accueil Tony Rollman“ auf Kirchberg untergebracht. „Da die Entscheidung über die Verlegung oft erst später getroffen wird, werden einige Familien auch in anderen regulären Einrichtungen untergebracht“, erklärt das Office national de l’accueil (ONA) gegenüber der woxx. Mit einer Höchstkapazität von 600 Betten, lebten im Januar dieses Jahres 473 Personen in der Unterkunft.
Die Lebensbedingungen in der Unterkunft sind nicht die einfachsten: Es mangele an Privatsphäre, erklärt Keren Rajohanesa. Der mentale Zustand der Mutter Natalia und Tochter Ludmila verschlechtert sich zunehmend, so die Juristin, die sich bei Passerell auf die Rechte von Familien und Opfer geschlechtsspezifischer Gewalt spezialisiert und hierzulande den Fall der Familie begleitet. Natalia Sedova gibt sich dennoch nüchtern: Trotz der Zelte, die sich die Familie mit anderen teilt, fänden die Kinder langsam in einen „normalen“ Lebensrhythmus zurück. Es sei vor allem die rechtliche Unsicherheit, die der Familie zu schaffen macht.
27. März 2024.
Die Familie erhält den befürchteten Bescheid, der sie zurück nach Frankreich beordert. Nach anderthalb Jahren auf der Flucht, kann Natalia ihre Reaktion auf den Entscheid kaum beschreiben. „Ich war mit den Nerven am Ende.“ Für die Passerell ist dies nichts Neues: „Das gesamte Dublin-Verfahren ist eine stressige und beängstigende Zeit“, so Vandereet. „Die Personen wissen nicht, an welchem Tag sie von Polizeibeamten überstellt werden, sie werden wie Kriminelle behandelt. Mehrere sind aufgrund dieser Angst bereits ins Krankenhaus eingeliefert worden.“
Eine Rückführung in das Nachbarland würde sie „einer unmenschlichen und erniedrigenden Behandlung aussetzen“ und gegen Artikel 3 der Europäischen Menschenrechtskonvention (EMRK) verstoßen, argumentiert die Familie in ihrem Einspruch. Sie befürchtet, ohne ein garantiertes Recht auf eine Unterkunft bei einer Abschiebung in Frankreich auf der Straße zu landen. So warnt auch ein im Jahr 2022 veröffentlichter Bericht des European Council on Refugees and Exiles vor überfüllten Unterkünften und unvollständigen Berufungs- und Überprüfungsverfahren in Frankreich.
Das Gericht habe die prekäre Situation der Familie nicht berücksichtigt, so die Kritik der Juristin Keren Rajohanesa.
7. Mai 2024.
Das luxemburgische Verwaltungsgericht hingegen weist den Einspruch ab. Die „Missstände“, auf die sich die Sedovas in ihrem Einspruch bezögen, erreichten keine „besonders hohe Schwelle der Ernsthaftigkeit“, heißt es im Gerichtsurteil. Die Unterbringung stelle „kein absolutes Recht dar, sodass die Einschränkung dieses Rechts nicht gegen Artikel 3 der EMRK verstößt“. Zudem fehlten die nötigen Dokumente, die beweisen würden, dass ihr Antrag auf internationalen Schutz in Frankreich nicht gerecht geprüft wurde und Frankreich seinen internationalen Verpflichtungen nicht nachgekommen sei.
Die Juristin Keren Rajohanesa sieht das anders: Das Gericht habe die prekäre Situation der Familie nicht berücksichtigt, so ihre Kritik. Die luxemburgischen Behörden beriefen sich aber auf ein „gegenseitiges Vertrauen“ mit Frankreich und gingen davon aus, dass „Frankreich das internationale Recht einhält“.
In prekäre Lage gedrängt
Gerade die Dublin-III-Verordnung ist vielen Menschenrechtsorganisationen seit Jahren ein Dorn im Auge, drängt das System doch Menschen in ein prekäres Leben ohne Aufenthaltsgenehmigung. Dass der neue EU-Migrations- und Asylpakt, dessen „Asylum and Migration Management Regulation“ (AMMR) das Dublin-Verfahren ersetzen wird, die Situation von Asylsuchenden verbessern wird, bezweifeln die NGOs stark. Sie warnen vor dem erhöhten Risiko oberflächlicher Prozeduren und beschleunigter Abschiebungen (woxx 1775). „Es wird zwar weniger Dublin-Fälle geben, doch nur, weil die Personen an den EU-Außengrenzen in geschlossenen Unterkünften untergebracht werden“, so Vandereet.
Laut der Menschenrechtsbeauftragten müssten Staaten neben einer spezialisierten Betreuung zudem die Ausnahmeklausel im Dublin-III-Abkommen stärker einsetzen. Die besagt, dass ein Mitgliedstaat von einer Abschiebung absehen kann, wenn diese gegen die Menschenrechte einer Person verstößt. Dafür müsse die Situation aber „extrem“ sein, wie der Gerichtshof der Europäischen Union im Jahr 2019 urteilte (woxx 1520). Dies zu beweisen sei wiederum schwer. Anke Vandereet selbst kann sich an keinen Fall erinnern, in dem Luxemburg die Klausel angewendet hat: „Wenn es welche gab, dann sehr selten“.
7. Juni 2024.
Nach ihrer Abschiebung und Übergabe an französische Polizist*innen lebten die Sedovas die ersten paar Wochen bei Bekannten, seit dem 19. Juni jedoch sind sie auf Notunterkünfte angewiesen. Befand sich die Familie, wie so viele andere Asylsuchende in Luxemburg, vorher schon in einer „extremen Not und Unsicherheit“, erhöhe die Abschiebung nun zusätzlich das Risiko von Ausbeutung, warnt Rajohanesa. Die Sedovas haben 30 Tage Zeit, um Frankreich zu verlassen. Zurück wollen sie auf keinen Fall. Alexander befürchtet, zum Wehrdienst eingezogen zu werden, Natalia ihrerseits hat Angst, wegen ihrer Unterstützung russischer Oppositioneller verhaftet zu werden. Trotz Schulpflicht haben die Kinder in den letzten zwei Jahren keine russische Schule besucht. Ein guter Vorwand für die russischen Behörden, „uns die Kinder wegzunehmen“, so Natalia. Das sei ihre größte Angst. Die Familie plant, mithilfe von Keren Rajohanesa einen erneuten Einspruch gegen ihre Abschiebung nach Russland einzulegen. „Die Abschiebung würde meiner Meinung nach eine Verletzung ihrer Rechte darstellen“, sagt die Juristin. Einen erneuten Asylantrag in Frankreich kann die Familie nicht stellen, sofern sie keine neuen Beweisdokumente vorlegen kann. „Uns sind die Hände gebunden“, sagt Natalia gegen Ende. „Wir haben jeden Tag Angst, vor dem nächsten Morgen.“