Integration durch Assimilation

INTERVIEW Gegen Hofieren konservativer Islamverbände: Muslimischer Theologe warnt Politik und Kirchen
Von unserem Korrespondenten Manfred Maurer, Linz  tageblatt 9. August 2024
Der soeben vereitelte Anschlag auf ein Wiener Taylor–SwiftKonzert unterstreicht auf drastische Weise: Österreich hat ein Integrationsproblem. Das brandgefährliche Gedankengut islamischer Extremisten sickert auch dort, wo der Islam seit 1912 anerkannte Religion ist, in jungmuslimische Köpfe. Was tun? Der islamische Religionspädagoge und Buchautor -Abdel-Hakim -Ourghi spricht sich im Tageblatt-Interview für einen Schulterschluss der liberalen -Muslime aus und warnt Politik und Kirchen vor einer Kooperation mit konservativen Islamverbänden. Die Lösung der Integrationsproblematik sieht der Freiburger Theologe in -Assimilation.

Tageblatt: Vor sechs -Jahren haben Sie in einem TageblattInterview das Scheitern der liberalen Muslime beklagt. Stimmt der Eindruck, dass sich die Situation seither eher verschlechtert als verbessert hat?
Abdel-Hakim Ourghi: Der liberale Islam könnte erfolgreichliberale Islam könnte erfolgreich sein, wenn sich seine Wortführer im Rahmen eines Dachverbands organisierten. Der schweigenden Mehrheit der Muslime in Deutschland, in der Schweiz und in Österreich muss eine Bühne im öffentlichen Raum angeboten werden. Und viele unter ihnen hoffen auch, dass das geschieht. Den meisten Vertretern des liberalen Islams, die solch ein Unternehmen in die Tat umsetzen könnten, geht es aber nicht um die Sache, sondern um die eigene Person und das eigene Interesse. Es ist höchste Zeit, dass Wortführer des liberalen Islam ihre Streitigkeiten beiseitelassen und zusammenarbeiten. Der liberale Islam ist keine OneMan-Show.

Die schweigende Mehrheit ist liberal. Jedoch haben wir ein größeres Problem. Der islamische Antisemitismus ist auch unter den liberalen Muslimen verbreitet.

Für eine Islamkonferenz in Wien suchten die Organisatoren vergeblich nach einem Muslimverein, der in der Diskussion den Part des säkularen Islam vertreten hätte sollen. Fundi-Vereine gibt es dagegen schon fast in jedem größeren Dorf. Woran liegt es?
Selbstverständlich wünsche ich Mouhanad Khorchide (IslamTheologe an der Uni Münster und Initiator der österreichischen Islam-Konferenz, Anm. d. Red.) viel Erfolg bei seinem Vorhaben hinsichtlich der Islamkonferenz in Wien. Jedoch hat uns die Geschichte beigebracht, dass durch den Staat organisierte Religion zum Scheitern verurteilt wird. Sowohl die Islamkonferenz in Wien als auch in Deutschland ist nichts anderes als ein politisches Theater zur Beruhigung der Mehrheitsgesellschaft. Die Islamkonferenz ist nur eine Show, weil wir am Ende nicht weiterkommen. Wir brauchen Konferenzen, in denen es um Versäumnisse auch von politischer Seite geht, etwa die zunehmende Macht des politischen Islams, die besorgniserregende Judenfeindschaft und die Zunahme des islamischen Antisemitismus im Westen.
Ist die schweigende Mehrheit der Muslime wirklich liberaler eingestellt als die Verbände oder ist das von Milli Görüs oder Ditib in Deutschland bzw. dessen österreichischem Pendant Atib verbreitete Weltbild in der muslimischen Gemeinschaft als mehrheitsfähig zu betrachten?
Die schweigende Mehrheit ist liberal. Jedoch haben wir ein größeres Problem. Der islamische Antisemitismus ist auch unter den liberalen Muslimen verbreitet. In meinem neuen, Anfang November erscheinenden Buch „Die Liebe des Hasses: Der 7. Oktober 2023“ (Tag des Hamas-Überfalls auf Israel, Anm. d. Red.) bin ich bemüht, zu erklären, woher dieser Hass und diese Verachtung gegen Juden und den Staat Israel kommen.
Als einer der Erstunterzeichner der 2016 veröffentlichten Freiburger Deklaration für eine „Aufklärung, aus der eine muslimische Gemeinschaft erwächst, die sich als integraler Bestandteil der europäischen Gesellschaft sehen will“, müssen Sie ziemlich frustriert sein. Von islamischen Aufklärern hört man wenig, dafür umso mehr von islamistischen Influencern, die offen gegen eine westliche „Wertediktatur“ rebellieren und das Kalifat propagieren.
Nein, ich bin nicht frustriert, sonst hätte ich längst mit meiner Aufklärungsarbeit aufgehört. Die Politik und die beiden Kirchen müssen endlich ihre Zusammenarbeit mit den radikalisiert-konservativen Dachverbänden infrage stellen. Was haben sie mit dem interreligiösen Dialog erreicht? Nichts. Viele Moscheen sind und bleiben der Ort, wo zur Radikalisierung junger Muslime und Verbreitung des islamischen Antisemitismus beigetragen wird. Mein Ziel ist, die junge Generation durch den islamischen Unterricht zu erreichen. Diese muss lernen, dass das weltliche Gesetz über der Religion steht und dass sie sich mit dem Land, in dem sie lebt, und mit den westlichen Werten identifiziert. Die Lösung der gescheiterten Integration ist die Schaffung eines europäischen Individuums, das auch Muslim sein kann.
Der aktuelle Nahost-Krieg befeuert den Antisemitismus und wird von Islamisten propagandistisch ausgeschlachtet. Österreich und Deutschland werden sogar kritisiert, weil die Regierungen zu Israelfreundlich seien. Sollten Wien und Berlin die historische Verantwortung ausblenden oder darf man noch Israel-freundlich sein?
Der 7. Oktober hat tatsächlich gezeigt, dass wir es nicht nur mit dem Antisemitismus der Islamisten, sondern auch mit dem islamischen Antisemitismus zu tun haben. Alle, nicht nur Juden, nicht nur liberale Muslime müssen zusammenarbeiten. Denn der islamische Antisemitismus ist auch eine Ablehnung unserer westlichen Werte. Es ist höchste Zeit, die Frage zu stellen, warum sich Muslime mit einem idealisierten Land namens Palästina, das nicht mal existiert, identifizieren. Wo sind alle diese Dachverbände? Warum waren sie nicht auf den Straßen, um die verbrecherische Hamas zu verurteilen?
Der israelisch-palästinensische Krieg ist ein politischer, ethnischer, sozialer Konflikt. Ist die Religion „nur“ Brandbeschleuniger oder muss man sie auch als ursächlich betrachten?
Die Israelphobie und der islamische Antisemitismus unter den Muslimen ist nicht anders als ein historisches Produkt der durch die Quellen des Islam legitimierten Judenfeindschaft. Dazu benötigen die Muslime eine Erinnerungskultur, damit die dunklen Seiten ihrer Geschichte nicht verdrängt oder vergessen werden.
Sind die Radikalen nur lauter als die Reformer oder haben sie tatsächlich die Lufthoheit über vielen Moscheegemeinden?
Man muss zugeben, dass der radikalisiert-konservative Islam der muslimischen Dachverbände bestens organisiert ist. Dies ist auch den beiden Kirchen und politischen Parteien zu verdanken. Es wird Zeit, dass die Wortführer des liberalen Islam gemeinsam an einem Tisch sitzen, damit sie sich organisieren.
Sie lehren zwar, dass Muslima kein Kopftuch tragen müssen, stehen aber Kopftuchverboten selbst skeptisch gegenüber. Die Frauenrechtsorganisation „Terre des femmes“ (TDF) hat gerade in einer Umfrage unter deutschen Pädagoginnen erhoben, dass bereits fünfjährige Mädchen verschleiert werden und Jungmuslima mit Kopftuch bei Integration und Bildung benachteiligt sind. Wie außer mit dem von TDF geforderten Kinderkopftuchverbot könnte diese Entwicklung gestoppt werden?
Ich bin kein Freund von Verboten. Ich bin sehr für die Aufklärungsarbeit. Unsere Aufgabe liegt darin, zu zeigen, dass das Kopftuch durch die Religion überhaupt – nicht legitimiert wird. Die Verschleierung ist ein historisches Produkt männlicher Herrschaft.
Im Geschichtsunterricht in Österreich und Deutschland spielt zwar das „Lernen aus der Geschichte“ im Sinne des „Nie wieder“ eine zentrale Rolle. Doch die Schulklassen, in denen bisweilen mehrheitlich muslimische Kinder -sitzen, hören nichts über muslimischen Antisemitismus oder etwa Hitlers in der arabischen Welt bis heute verehrten -Holocaust-Komplizen Amin al-Husseini. Braucht es neue Lehrpläne, die im Unterricht dem demografischen Wandel Rechnung tragen?
Islamischer Antisemitismus und Israelphobie müssen in den islamischen Unterricht integriert werden. Juden und Muslime müssen endlich zusammenarbeiten. Allerdings müssen die Juden auch jegliche Zusammenarbeit mit dem organisierten politischen Islam -ablehnen.
Wie ist Ihre Prognose für -Europa, wenn dem politischen Islam nicht Einhalt geboten wird?
Die Zukunft gehört dem liberalen Islam. Die Herausforderung der Integration der Muslime im Westen wird nur durch Assimilation zu lösen sein. Damit meine ich, dafür zu stehen, wo ich lebe, und mich mit den Werten des Landes, in dem ich lebe, zu identifizieren.

Mein Ziel ist, die junge Generation durch den islamischen Unterricht zu erreichen. Diese muss lernen, dass das weltliche Gesetz über der Religion steht und dass sie sich mit dem Land, in dem sie lebt, und mit den westlichen Werten identifiziert.