RemigrationDie extreme Rechte auf dem Weg zur kulturellen Hegemonie
tageblatt 15. März 2025 Stefan Kunzmann

Ihren Vormarsch in Europa haben die Ultrarechten nicht zuletzt der Tatsache zu verdanken, dass sie sich etwa die Flüchtlingskrise, die Pandemie und den russischen Angriffskrieg auf die Ukraine zunutze machen konnten. So gewann etwa die rechtsextreme Partei Rassemblement National (RN) die Europawahlen in Frankreich; in den Niederlanden wurde die Partij voor de Vrijheid (PVV) von Geert Wilders zweitstärkste Kraft; ebenso gewann in zwei ostdeutschen Bundesländern die rechtsextreme Alternative für Deutschland (AfD) die Landtagswahlen und wurde in Thüringen sogar zur stärksten politischen Kraft. Bei dem Urnengang zum österreichischen Nationalrat im Herbst wurde die FPÖ stärkste und bei der deutschen Bundestagswahl im Februar die AfD zweitstärkste Partei. Was diese Parteien verbindet, sind vor allem ihre Gegnerschaft zur Europäischen Union und ihre Ablehnung der Migration.
Während die politischen und wirtschaftlichen Krisen die Menschen verunsichern, wächst ihre Zustimmung zu autoritären Lösungen – dazu gehört die Remigration. Das Londoner Institute for Strategic Dialogue (ISD) definierte den Begriff bereits im Jahr 2019 in Zusammenhang mit der Verschwörungstheorie vom „Großen Austausch“, wie die beiden ISD-Forscher Jacob Davey und Julia Ebner in ihrer Schrift über „The Great Replacement“ darlegen. Verwendet wurde das Schlagwort der „Remigration“ bereits in den 1990er Jahren von Bruno Mégret, damals Generalsekretär des RN-Vorläufers Front National. RN-Ikone Marine Le Pen distanzierte sich zwar von dem Begriff, RN-Vordenker Renaud Camus fand jedoch mit seinem Buch „Le grand remplacement“ und mit der Behauptung, Immigration würde zu einer „déculturation“ Frankreichs führen, insbesondere bei der völkisch-nationalistischen identitären Bewegung Anklang. Das ISD bezeichnet die Remigration als „Zwangsabschiebung von Minderheiten“ und „weiche Form der ethnischen Säuberung“. Camus sieht sie als Instrument gegen „Islamisierung“ und „Masseneinwanderung“.
„Neuer Euphemismus für altes Phänomen“
Längst habe sich die Remigration über die Identitären hinaus ausgebreitet, schreibt die Libération. Renaud Camus habe das „Schlüsselkonzept des identitären Denkens“, das die massive und erzwungene Rückkehr von Immigranten in ihre Herkunftsländer bezeichnet, populär gemacht. Obwohl der Begriff ein „neuer Euphemismus für ein altes Phänomen“ ist, nämlich die Zwangsumsiedlung ganzer Bevölkerungsgruppen, ist er mittlerweile im allgemeinen politischen Diskurs in Frankreich angekommen, stellen die ISD-Generaldirektorin Sasha Havliczek und Cécile Guerin, Journalistin und ISD-Forscherin, fest. Zuvor habe sich die Verwendung des Schlagworts noch auf die geschlossenen Kreise der Kolloquien dieser Bewegung beschränkt. Ähnlich verhalte es sich mit dem Begriff des „grand remplacement“, der Teil derselben „viktimistischen“ Sicht ist, nach der die weiße Bevölkerung Europas durch Menschen anderer ethnischer Herkunft bedroht wird. Die RN-Europaabgeordnete Marion Maréchal, Nichte von Marine Le Pen, sagte einmal gegenüber The Economist, dass die Theorie des „großen Austauschs“ „nicht absurd“ sei, während der RN-Vorsitzende Jordan Bardella schon von einer „substitution“ der lokalen Bevölkerung in den Vorstädten sprach.
Vom ISD gesammelte Daten aus sozialen Netzwerken zeigen, wie sehr sich die Konzepte des „großen Austauschs“ und der Remigration online verbreitet haben. Die Begriffe wurden von rechtsextremen Influencern aufgegriffen. Wie Havliczek und Guerin betonen, sei das Eindringen identitärer Thesen in den politischen Diskurs und sozialen Netzwerken kein ausschließlich französisches Phänomen, sondern spiegele vielmehr einen europäischen Trend wider. Während die ideologische Inspiration des „großen Austauschs“ ihre Wurzeln in Frankreich hat, erlebte die Idee der Remigration vor allem in Deutschland und Österreich Verbreitung. Dabei wurde der Kampfbegriff nicht nur bei einigen Demos hartgesottener Identitären skandiert und auf Transparente geschrieben, sondern er wurde von AfD und FPÖ als euphemistische Variante von „Ausländer raus“ übernommen. Die sogenannten Freiheitlichen in Österreich schlugen sogar nach den Europawahlen im Juni des vergangenen Jahres die FPÖ-Politikerin Susanne Fürst als EU-„Remigrationskommissarin“ vor – und FPÖ-Obmann Herbert Kickl forderte im österreichischen Wahlkampf ebenso eine Remigration.
Der thüringische AfD-Chef Björn Höcke hatte bereits 2018 von einem „großangelegten Remigrationsprojekt“, das „wohltemperierte Grausamkeit“ erfordere, gesprochen. In einem Fernsehduell vor den Landtagsahlen im vergangenen Jahr verharmloste der rechtsextreme Politiker, mit Remigration habe er nur die Rückkehr von 1,5 Millionen in den vergangenen 30 Jahren ausgewanderten Deutschen gemeint. „Remigration“, schon 2023 zum Unwort des Jahres gewählt, erlangte besondere Aufmerksamkeit, nachdem der österreichische Rechtsextremist und Identitäre Martin Sellner bei einem Treffen von Rechtsextremisten, AfD-Politikern und Unternehmern in Potsdam im November 2023 den „Masterplan zur Remigration“ vorgestellt hatte. Vor gut einem Jahr verlangte Marine Le Pen von AfD-Co-Chefin Alice Weidel eine schriftliche Abbitte, dass Remigration niemals Teil des AfD-Programms werde. Dem kam Weidel jedoch nicht nach. In ihrer Rede zur Nominierung als Spitzenkandidatin bei der Bundestagswahl forderte sie Rückführungen im großen Stil und fügte hinzu: „Wenn es dann Remigration heißen soll, dann heißt es eben Remigration.“ Letztere ist in diesem Sinne bereits Teil der AfD-Programmatik.
Diese kulturelle Hegemonie wird dabei vor allem im sogenannten vorpolitischen Raum angestrebt, also etwa im Freizeit-, Arbeits- und Alltagsumfeld, überall dort, wo nicht Politik im engen Sinne stattfindet
Der Umdeutung des Begriffs „Remigration“ von einer ursprünglich freiwilligen „Rückwanderung“ zu einem Schlagwort der neuen Rechten kann als Teil einer Strategie einer „Eroberung der gesellschaftlichen Deutungshoheit und kulturellen Hegemonie mittels Diskurskaperung und -verschiebung“ bezeichnet werden, schreibt der Rechtsextremismus-Experte Matthias Meyer vom Jenaer Institut für Demokratie und Zivilgesellschaft (IDZ). „Diese kulturelle Hegemonie wird dabei vor allem im sogenannten vorpolitischen Raum angestrebt, also etwa im Freizeit-, Arbeits- und Alltagsumfeld, überall dort, wo nicht Politik im engen Sinne stattfindet.“ Entscheidend sei die Präsenz in der öffentlichen Debatte, „um den Diskurs mitzuprägen, zu verschieben und auf diese Weise eigene Themen zu setzen“.
Klauen bei „Gramsci lite“
Diese Strategie der Ultrarechten, um die gesellschaftliche Deutungshoheit und kulturelle Hegemonie zu erobern, ist nicht neu. Die neue Rechte bedient sich hierfür bei den Analysen des marxistischen Philosophen Antonio Gramsci (1891-1937), Mitgründer und Generalsekretär der Kommunistischen Partei Italiens. Dieser wurde 1926 von den Faschisten verhaftet und zu einer langen Haftstrafe verurteilt. In seinen berühmten „Gefängnisheften“ entwarf er unter anderem die Theorie der kulturellen Hegemonie, gewissermaßen der Meinungsführerschaft.
Die Rechtspopulisten und Rechtsextremisten haben Gramscis Idee nun umgedeutet und für sich genutzt, so wie sich zahlreiche politische und wissenschaftliche Projekte in aller Welt auf seine Theorie berufen. Der Begriff der Hegemonie ging in die Alltagssprache ein. Von der „lockeren Verwendung“ sei es nicht weit zur Phrase gewesen, konstatieren Thomas Barfuss und Peter Jehle, Autoren einer Gramsci-Monografie: „Es ist wie mit den Muscheln am Strand, die man in die Tasche stecken und nach Hause bringen kann. Aber nur, weil alles Leben aus ihnen verschwunden ist.“ Die Tendenz zur vereinfachenden Zurichtung ging einher mit dem Missbrauch von „Gramsci lite“, wie es die britische Anthropologin Kate Crehan nennt, durch die neue Rechte.
Gramscis Theorie besagt, dass auf die Erlangung der kulturellen Hegemonie und der breiten Unterstützung in der Gesellschaft, aber auch bei den Eliten, der politische Machtwechsel folgt. Diese Strategie steht dem Vorgehen anderer rechtsextremer Gruppen entgegen, die den gewaltsamen Umsturz planen. Zentrales Element ist der Aufbau einer Kaderschmiede. Ein Beispiel hierfür ist das Institut für Staatspolitik (IfS). Ein weiterer Weg ist die Nutzung sozialer Netzwerke wie etwa von TikTok, mit der direkt und ungefiltert vor allem junge Wähler angesprochen werden. Die AfD konnte hierbei beträchtliche Erfolge erzielen, indem sie zum Beispiel fast fünfmal häufiger angeklickt wurde als die CDU/CSU. Auf dieser Weise wird auch Vokabular wie „Remigration“ verbreitet und normalisiert werden.
Unterschiedliche Studien haben gezeigt, dass autoritäre und antidemokratische Einstellungen keine Randphänomene mehr sind, sondern zunehmend in Teilen der politischen und gesellschaftlichen Mitte verankert wurden. Daraus schlugen die Rechtsextremen Profit, wenn etwa konservative Politiker „normverletzende“ Aussagen von extrem rechts übernahmen. Auf die Wahlerfolge der AfD reagierten andere Parteien mit einer Anpassung an oder gar Übernahme von deren Migrationspolitik. Die Gründe für das Erstarken der extremen Rechten liegen, wie die sozialwissenschaftliche Zeitschrift Prokla schreibt, „nicht in einer vermeintlich zu liberalen Migrationspolitik, sondern unter anderem in der tiefen Verankerung neoliberaler (…) Politiken sowie den damit einhergehenden Frustrationen“. Die AfD sei dadurch zu einem erfolgreichen rechten „Hegemonieprojekt“ geworden.