Grandi: Nein, die Unterstützung von Flüchtlingen liegt in erster Linie in der Verantwortung von Staaten. Aber warum sollten wir nicht um die Hilfe anderer Akteure werben und Unternehmen einbinden? Wir leben in einer Zeit, in der Flüchtlinge oftmals als Problem dargestellt werden. Da ist jede zusätzliche Hilfe willkommen. Außerdem helfen private Akteure dabei, Arbeitsplätze zu schaffen und Regionen wirtschaftlich voranzubringen, die viele Flüchtlinge aufnehmen.
SPIEGEL: Auf den griechischen Ägäisinseln leben derzeit mehr als 40 000 Migranten und Flüchtlinge in Lagern unter unmenschlichen Bedingungen. Warum schaffen es das UNHCR, die EU und der griechische Staat nicht, diese Menschen angemessen zu versorgen?
Grandi: Ich war vor drei Wochen in Griechenland und habe mit der Regierung gesprochen. Die Zahl der Ankünfte auf den Ägäisinseln war lange Zeit sehr niedrig, aber in den vergangenen Monaten ist sie wieder gestiegen. Unsere Priorität ist es, die Inseln zu entlasten, indem mehr Menschen auf das Festland gebracht werden.
SPIEGEL: Das Flüchtlingsabkommen zwischen der Türkei und der EU sieht aber vor, dass die Asylbewerber bis zu ihrem Bescheid auf den Inseln bleiben.
Grandi: Die griechische Regierung will in den kommenden Monaten 20 000 Asylbewerber aufs Festland bringen, um die Zustände zu verbessern. Anders geht es nicht. Die Kinder werden zuerst von den Inseln gebracht. Kurzfristig ist das die beste Lösung.
SPIEGEL: Die griechische Regierung hat zudem angekündigt, geschlossene Lager zu bauen. Was halten Sie davon?
Grandi: Von außergewöhnlichen Situationen abgesehen, sind wir gegen die Inhaftierung von Asylsuchenden, auch wenn sie in vielen Ländern der Welt Routine ist. Wir müssen nun abwarten, wie die Pläne umgesetzt werden.
SPIEGEL: Wie lange werden Ihre Mitarbeiter in der Ägäis bleiben?
Grandi: 2015 glaubten wir, dass wir nur kurz und ausnahmsweise in Griechenland aktiv werden müssten. Es ist überhaupt das erste Mal, dass das UNHCR eine große Operation in der Europäischen Union organisiert hat, was zeigt, dass es in Europa eine humanitäre Krise gibt. Aber ich habe Premierminister Kyriakos Mitsotakis gesagt, dass wir Griechenlands eigene Kapazitäten ausbauen sollten. Unsere knappen Ressourcen werden in Afrika, Asien und dem Nahen Osten gebraucht.
SPIEGEL: Die EU bezahlt die libysche Küstenwache dafür, dass sie Flüchtende auf dem Meer abfängt. Viele enden in Inhaftierungslagern unter schrecklichen Bedingungen. Halten Sie das für legitim?
Grandi: Menschen in den eigenen Territorialgewässern abzufangen ist nicht illegal. Die Europäer können libysche Institutionen stärken, wenn sie das für richtig halten. Aber ich habe mit dem Ansatz zwei Probleme: Erstens wurde neben der Küstenwache keine andere Institution im Land gestärkt. Und so landen Migranten und Flüchtlinge in Inhaftierungslagern, sobald sie an Land gebracht werden. Zweitens hat die EU ihre eigenen Rettungskapazitäten reduziert, und einige Politiker haben zudem die zivilen Retter kritisiert, die eingesprungen sind. Es wurde sogar so dargestellt, als würden wegen der NGOs noch mehr Menschen fliehen, obwohl das statistisch nicht belegt ist. Das ist eine Schande.
SPIEGEL: Wie ist die Situation in den Inhaftierungslagern?
Grandi: Das sind schreckliche Orte. Allerdings nimmt die Zahl der Menschen, die in den offiziellen, uns bekannten Lagern gefangen sind, zum ersten Mal ab. Das Problem ist, dass in Libyen selbst außerhalb der Lager die Situation für Migranten sehr gefährlich ist. Draußen tobt der Krieg, vor allem subsaharische Migranten werden gekidnappt und ausgenutzt.
SPIEGEL: Im Internet kursiert ein UNHCR-Dokument, in dem steht, dass in einem Flüchtlingslager in Tripolis einige Migranten bald kein Essen mehr bekommen werden. Dem UNHCR wird vorgeworfen, diese Menschen aushungern zu wollen, um sie aus der überfüllten Einrichtung zu vertreiben.
Grandi: Auch Migranten oder Flüchtlinge, die das Zentrum verlassen, bekommen von uns weiterhin Hilfe, auch in Form von Geld. Ich verstehe die Frustration dieser Menschen, wirklich. Das Dilemma, mit dem wir in Libyen konfrontiert sind, ist ein wiederkehrendes Element unserer Arbeit: Entweder wir bleiben und leben mit den Schwierigkeiten vor Ort und mit den moralischen Herausforderungen. Dann können wir ein paar Menschen retten und ausfliegen. Oder wir entscheiden, dass wir keine Kompromisse machen, und verlassen das Land. Die Situation ist ohne Zweifel eine der schwierigsten, in denen wir uns seit Jahren befunden haben.
SPIEGEL: Sie sind beinahe täglich mit Leid und Elend konfrontiert. Wie hat Ihre Arbeit Ihren eigenen Blick auf die Welt verändert?
Grandi: Ich schaue besorgter auf die Welt als noch vor ein paar Jahren. Aber ich bin nicht naiv. Wenn ich glaubte, dass wir nichts mehr tun könnten, würde ich diesen Job nicht mehr machen. Ich denke, dass uns noch Zeit bleibt, um Lösungen zu finden, die nicht aus Zäunen und Mauern bestehen. Aber viel Zeit haben wir nicht mehr.