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Dünnes Eis

EDITORIAL/ POLITIK & GESELLSCHAFT / DIEGO VELAZQUEZ,

Luxemburger Wort 31.12.2019

Luxemburg hat sich bislang, zumindest an der politischen Oberfläche, einem für die Demokratie gefährlichen Trend entziehen können: dem Erstarken des Rechtspopulismus. Während Marine Le Pen in Frankreich, Matteo Salvini in Italien oder die Alternative für Deutschland (AfD) wiederholt über Erfolge bei Wahlen jubeln, dümpelt die ADR im Großherzogtum vor sich hin. Und die Versuchung ist groß, Luxemburg deshalb als ein weltoffenes Land zu feiern, das immun gegen fremdenfeindliche und populistische Auswüchse ist. Ein Trugschluss …

indlicher Bewegungen im Ausland beiträgt, ist nicht xenophobisches Gedankengut allein, sondern gesellschaftlich weit verbreitete Abstiegsangst. Diese drückt sich zwar von Land zu Land unterschiedlich aus, wird überall aber gekonnt ausgenutzt.

Die Mehrheit der Briten fühlte sich auf dem Arbeitsmarkt von Migranten aus Osteuropa verdrängt, was zum Brexit-Votum führte. US-Präsident Donald Trump nutzt den Frust über die Verlagerung von Produktionsstätten in wettbewerbsfähigere Staaten aus, um gegen den Freihandel zu wettern. In Polen und Ungarn missbrauchen rechtskonservative Politiker die Angst vor fremden Kulturen, um sich als Verteidiger der abendländischen Zivilisation zu profilieren; dass in Polen und Ungarn fast keine Muslime leben, spielt dabei kaum eine Rolle. Gleich ist allem, dass viele Bürger – mithin Wähler – sich vom zunehmenden Menschen-, Waren- und Kapitalstrom, den man Globalisierung nennt, bedroht fühlen.

Diese Abstiegsängste sind vielen im Großherzogtum noch fremd, weil das

1 sur 2 02/01/2020 à 16:22

Luxemburger Wort https://digitalpaper.wort.lu/data/95/reader/reader.html?t=1577978…

Luxemburger Modell die meisten Wähler im Land vom Wettbewerb der Globalisierung einfach abschirmt: Staatsbeamte, Gemeindeangestellte und alle weiteren Arbeitnehmer, die rund um den öffentlichen Sektor kreisen, müssen sich nicht vor ausländischer Konkurrenz fürchten und werden obendrein fürstlich entlohnt. Allein die Sprachkenntnisse, die es für diese Jobs braucht, sichern, dass Luxemburger dort den Vorrang haben. Die vermeintlich politische Stabilität des Landes erklärt sich dadurch, dass alle Parteien diesen privilegierten Parallel- Arbeitsmarkt mittragen. Und solange die dort gezahlten, oft stolzen Gehälter einen gewissen Lebensstandard ermöglichen, bleibt das System auch politisch unangetastet. Doch allein der zunehmende Kampf für bezahlbaren Wohnraum könnte dies bald ändern. Wenn sich eines nahen Tages selbst ein Staatsbeamtenpaar kein Einfamilienhaus in Walferdingen mehr leisten kann, funktioniert das Modell nicht einmal mehr für diejenigen, für die es geschaffen wurde.

Spätestens dann wird eine starke Anti-System-Partei Oberwasser bekommen. Und dass die Luxemburger gewillt sein können, gegen den Willen ihrer Eliten die Wahlurnen zum Instrument des Ausschlusses zu nutzen, hat das Referendum zum Ausländerwahlrecht von 2015 bereits gezeigt.

Kontakt: diego.velazquez@wort.lu

«Le multilinguisme, symbole de notre identité»

L’Association de soutien aux travailleurs immigrés (ASTI) a 40ans. L’idée fondatrice était résumée à l’époque par le slogan «Vivre, travailler et décider ensemble». Elle est toujours valable aujourd’hui.

Née à la fin des années 1970, l’ASTI a évolué au gré des mutations de la so- ciété luxembourgeoise qui a absorbé de plus en plus de citoyens d’origine étrangère. La question de l’intégration et de l’identité luxembourgeoise ne s’étant pas émoussée au fil des ans, les missions de l’ASTI se sont diversi- fiées. Son actuelle présidente, Laura Zuccoli, évoque les enjeux d’antan et d’aujourd’hui.

Le Quotidien 30 décembre 2019

Integration, verpasste Chancen und glückliche Zufälle

40 Jahre ASTI / Serge Kollwelter über Integration, verpasste Chancen und glückliche Zufälle

Geplant hat er es so nicht. „Gute Zufälle“ seien es gewesen, sagt Serge Kollwelter (73), die ihn dahin gebracht haben, wo er ist. Vor 40 Jahren gründet der Grundschullehrer mit anderen die „Association de soutien aux travailleurs immigrés“ (ASTI). Die ersten 30 Jahre leitet er den Sozialverein als Präsident. Ein Gespräch über Integration und verpasste Chancen.

Tageblatt: Was verstehen Sie unter Integration?

Serge Kollwelter: Ein gutes, ausgewogenes und demokratisches Zusammenleben.

Seit 40 Jahren kämpft die ASTI für eine offene Gesellschaft in Luxemburg. Wagen Sie eine Bilanz?

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„Aufeinander zugehen“

Als ich mich zum ersten Mal mit dem Zusammenleben hier im Land befasst habe, gab es 330.000 Einwohner und 60.000 Ausländer. Das zeigt die Dynamik, die immer noch andauert. (Aktuell leben laut Statec 322.430 Luxemburger und rund 291.500 Ausländer hierzulande, Anm. d. Red.) Jährlich kommen 20.000 Ausländer hinzu. Es gibt noch viel zu tun.

Wo sehen Sie Handlungsbedarf?

Es gibt zwei Bereiche und das ist keine Überraschung: Schule und Wohnungsmarkt. Beides ist ein fortgeschriebener Skandal in einem Land mit solchen Bevölkerungszuwächsen. Und zwar von der gesamten politischen Klasse. Ich glaube, es ist den jeweiligen Regierenden einfach egal, denn von „Verschlafen“ kann nicht die Rede sein.

Die ASTI agiert unter dem Motto „vivre, travailler et décider ensemble“. Das hat einen Haken. Ausländer dürfen nicht mitentscheiden …

Das ist ja auch eine Zielvorstellung. Ich halte es da mit der Bostoner Tea Party: „No taxation without representation.“ Es ist einfach ungesund, wenn hier in der Stadt Luxemburg zwei Drittel der Einwohner kein Mitspracherecht haben.

Das ist eine De-facto-Ausgrenzung …

Ja. Mir machen aber die mittel- und langfristigen Konsequenzen mehr Sorgen. Wir brauchen diese Kinder und ihre Kompetenzen für unsere Gesellschaft. Und wir dürfen das nicht der Zeit überlassen. Erste Generation, zweite Generation …, es gibt dauernd neue erste Generationen.

Bremst nicht die Kultur des „Jeder kennt einen, der einen kennt“?

Solange sich die politischen Parteien nicht öffnen und Menschen mit Migrationshintergrund hereinlassen, wird nichts passieren. In Luxemburg bremst zusätzlich häufig die Sprache.

Es gibt eine Ausnahme: den Finanzsektor. Auf Kirchberg spielen die luxemburgische Nationalität und Sprache keine Rolle, obwohl es eine Schlüsselindustrie ist …

Das ist eine eigene Welt, die unter sich bleibt. Eine Parallelgesellschaft mit eigenen Schulen. Ein Banker, der hier fünf Jahre bleibt, muss nicht unbedingt Luxemburgisch lernen. Bedenklich finde ich aber, dass die Kinder der EU-Mitarbeiter nicht einmal ein Angebot bekommen, Luxemburgisch zu lernen.

Das sind überwiegend gut ausgebildete Europäer. Es gibt ja aber auch andere Immigranten …

PISA hat es doch gerade gezeigt: Wir sind das Land, das sich am wenigsten in der Schule einfallen lässt, um soziale Unterschiede auszugleichen.

Verpasste Chancen?

Es wird die Gelegenheit verpasst, dass sich die Kinder von Einheimischen und Ausländern finden können. Und es geht weiter mit den Sprachen. Wie soll eine portugiesische Mutter Hausaufgaben auf Deutsch betreuen, wenn sie die Sprache nicht kann? Ganz davon abgesehen, dass junge Portugiesen heute Englisch bevorzugen. Wir tun uns mit dieser rigiden Sprachenpolitik in der Schule keinen Gefallen.

Warum ändert sich nichts?

Jetzt mache ich mich bei meinen ehemaligen Kollegen unbeliebt. Warum sollen die hiesigen Lehrer etwas am Schulsystem ändern? Ihnen geht es doch gut dabei.

Der letzten ASTI-Umfrage entnehme ich, dass Ausländer, wenn sie die luxemburgische Staatsangehörigkeit annehmen, mitbestimmen dürfen. Mitsprache also nur über Nationalität?

Das ist das Konzept des 20. Jahrhunderts. Wir leben aber im 21.

Ist das nicht in einem vielsprachigen Land ziemlich konservativ?

„Conservare“ heißt bewahren und wir sind ja nicht ganz arm. Also haben wir viel zu bewahren. Das gilt auch für Dinge, die uns schon längst entglitten sind. Die Gesellschaft der Luxemburger unter sich gibt es schon lange nicht mehr.

Warum ist das Referendum dann so ausgefallen?

Die Art und Weise, wie das angegangen wurde, ist verantwortungslos. Als das Baby geboren war, sind die Eltern weggezogen und haben das Neugeborene sich selbst überlassen. So ein Referendum muss man doch vorbereiten. Wo waren denn die Herrschaften?

Kritik an der regierenden Koalition?

Wir sind voll auf der liberalen Individualisierungswelle. Jeder für sich. In den Vierteln kennen die allermeisten ihre Nachbarn nicht mehr. Kirchberg ist ein gutes Beispiel. Auf dem Dorf ist es dasselbe. Es genügt nicht zu sagen, „komm in die Feuerwehr“. Da geht die Ausgrenzung weiter. Der Kommandant gibt die Befehle nicht in drei Sprachen. Auf Gemeindeebene ist Luxemburgisch die letzte Hürde zur Integration.

Außer in der IT-Branche. Dort wird Englisch gesprochen …

Ja, klar. Wenn es keinen anderen gibt, nehmen wir einen Engländer oder Amerikaner, damit der Laden läuft. Da sind wir ganz pragmatisch.

Aktuell fordert die ASTI eine Novellierung des Integrationsgesetzes von 2008. Warum?

Seitdem hat sich viel verändert. Die Integrationskommission in vielen Gemeinden ist ein Papiertiger. Der „congé linguistique“ ist unzureichend. 110 Stunden reichen nicht, um Luxemburgisch zu lernen. Es gibt noch andere Beispiele.

Kommen wir zu den Grenzgängern. Gehen sie unter?

Wir dürfen sie nicht vergessen. Sie lassen Spuren hier im Land. Von „oben“ werden dauernd Signale ausgesendet, „wir müssen sie kurz halten“. Die Beihilfen zum Studieren sind ein gutes Beispiel. Oder der Steuerausgleich, wie ihn der Bürgermeister von Metz will. Dem verweigert sich die Regierung rigoros. Dann sprechen wir nicht von der Großregion, sondern von einem Reservat.

Was würden Sie ändern?

Wenn wir uns trauen, das Wort „Großregion“ in den Mund zu nehmen, dann müsste jedes luxemburgische Lyzeum Partner in der Großregion haben. Und nicht, damit sich die Direktoren treffen, sondern die Schüler. Sich kennenzulernen, ist die Voraussetzung, damit man sich schätzen lernt.

Und die Sprache anwendet …

Genau. Ich habe mal geschätzt , dass jeder luxemburgische Schüler bis zum Abitur rund 1.500 Stunden Deutsch und noch mal so viel in Französisch gehabt hat. Sprachlich sind sie jedoch bloß  auf dem Stand von Schuldeutsch oder Schulfranzösisch.

Hat Luxemburg überhaupt ein Interesse an der Großregion?

Die menschliche Ebene kommt meiner Meinung nach zu kurz. Das wurde schon bei der Kulturhauptstadt 2007 falsch gemacht. Alle Projekte hätten einen luxemburgischen Partner und einen aus der Großregion haben müssen als Voraussetzung zur Finanzierung. Stattdessen haben viele „ihre“ Projekte gemacht. Und fertig. Da ist eine Gelegenheit verpasst worden.

Zum Schluss: Wie sieht Luxemburg in zehn Jahren aus?

Ich glaube, wenn es uns wirtschaftlich schlechter gehen sollte, zeigt sich, wie es um den Zusammenhalt in der Gesellschaft bestellt ist. Die luxemburgischen Wähler wissen, dass ohne Ausländer in diesem Land nichts läuft. Das weiß sogar die ADR. Auf das jetzige lautlose und ruhige Nebeneinander haben wir kein Ewigkeitszertifikat.

Hoffnung teilen

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POLITIK & GESELLSCHAFT /ROLAND ARENS ,

Leitartikel, Luxemburger Wort 24 DSezember 2019

Zufall ist es nicht, dass zu Weihnachten das Schicksal von Flüchtlingen und Migranten in den Fokus der Öffentlichkeit rückt. Man kann nicht ruhigen Gewissens das Fest des Friedens und der Liebe feiern, während im Mittelmeer Menschen ertrinken, erst recht nicht in den wohlhabenden Ländern Europas, zu denen auch Luxemburg zählt.

Zur Realität an Weihnachten im Jahr 2019 gehört die ernüchternde Feststellung, dass weltweit so viele Menschen auf der Flucht sind, wie nie zuvor seit dem Zweiten Weltkrieg. Über 70 Millionen Menschen, 26 Millionen davon Kinder, zählt das Flüchtlingshilfswerk der Vereinten Nationen UNHCR. Es sind Menschen, die nicht wegen der Aussicht auf Reichtum ihre Heimat verlassen, sondern deren letzte und einzige Hoffnung es ist, sich auf eine gefährliche Reise zu begeben, um Gewalt und Krieg zu entkommen oder die wegen Umweltzerstörung infolge von Klimawandel keine Zukunft in ihrem Land haben. Für viele Migranten ist es eine verzweifelte, herzzerreißende Entscheidung, die der haitianische Schriftsteller Louis-Philippe Dalembert in seinem Roman „Mur Méditerranée“ beschreibt. Er erzählt von einer jungen Frau aus Afrika, die an der libyschen Küste in eines der Schlauchboote steigt und in dem Moment von dem Gefühl erdrückt wird, eine Verbannte zu sein, die auf dem Weg ins Exil ist. Ohne Aussicht auf Wiederkehr.

Papst Franziskus mahnt immer wieder, dass wir nicht wegschauen dürfen, wenn Migranten in Not sind. Im päpstlichen Palast ließ er kurz vor Weihnachten ein Kreuz als Mahnmal aufstellen, in das eine leuchtend rote Rettungsweste eingearbeitet ist. Sie gehörte einem unbekannten Flüchtling, dessen Leiche nie geborgen werden konnte. Jesus sei auch für die Menschen gestorben, die im Mittelmeer ertrinken, sagte Erzbischof Jean-Claude Hollerich kürzlich in einem Videointerview des katholischen Fernsehsenders KTO.

Vieles muss noch getan werden, um die weltweiten Migrationsströme einzudämmen. Mauern und Grenzen aufzubauen, kann nicht die einzige Lösung sein. Gerade die Europäische Union hat die Pflicht und die Möglichkeiten, Migranten aufzunehmen. Sie kann mit den Herkunftsländern Lösungen entwickeln, um den Menschen in ihrer Heimat eine Perspektive zu geben. Und auch wenn in diesen Tagen das Elend der Menschen in den Lagern Libyens und auf den griechischen Inseln im Vordergrund stehen muss, so ist doch ein Perspektivwechsel geboten. Wir dürfen Migranten nicht als Bedrohung unserer europäischen Lebensweise sehen. Es sind Menschen, die wir in ihrer Würde wahrnehmen und behandeln sollen.

Christen in aller Welt gedenken an Heiligabend der Geburt von Bethlehem. Auch Jesus war ein Flüchtling. Sein Schicksal und sein Vorbild erinnern daran, dass Hilfe für Migranten zu allen Zeiten ein Gebot derNächstenliebe und der Menschlichkeit ist. Welchen Sinn hätte unsere weihnachtliche Hoffnung, wenn wir sie nicht mit allen Menschen teilten? Ein Blick in die Krippe lässt keinen Zweifel daran, wie die Antwort auf diese Frage lautet. Dort liegt ein Kleinkind mit offenen Armen.

“Das ist eine Schande”

Als Grandi 2016 sein Amt als Uno-Hochkommissar für Flüchtlinge antrat, steckte Europa mitten in der Flüchtlingskrise. Seitdem muss er Antworten finden auf eine der drängendsten Fragen unserer Zeit: Was tun, wenn sich immer mehr Menschen auf der Flucht befinden, aber immer weniger Staaten bereit sind, Vertriebene aufzunehmen? Grandi, 62, ist Chef einer Behörde mit mehr als 16 000 Mitarbeitern, die von den griechischen Inseln bis Uganda im Einsatz sind. Am Dienstag eröffnete er das Global Refugee Forum in Genf, eine der größten Flüchtlingskonferenzen der Geschichte.

SPIEGEL: Herr Grandi, während sich vor allem Industrienationen abschotten, sind so viele Vertriebene auf der Flucht wie noch nie. Wie gehen Sie mit diesem Dilemma um?

Grandi: Die finanzielle Unterstützung der Staaten ist in den vergangenen Jahren gestiegen. Deutschland gibt uns viermal so viel Geld wie noch vor rund zehn Jahren. Aber Sie haben recht, insbesondere die reichen Staaten des globalen Nordens sind immer weniger bereit, Flüchtlinge aufzunehmen. Es braucht Programme, mit denen ausgewählte Flüchtlinge direkt aus einem Krisengebiet in ein sicheres Land gebracht werden.

SPIEGEL: Allerdings stellen die Staaten immer weniger Plätze für solche Umsiedlungen zur Verfügung.

Grandi: Das ist in der Tat sehr besorgniserregend. Die USA haben ihr Resettlement-Programm drastisch zusammengekürzt. Sie geben an, dass sie Probleme haben, die Flüchtlinge auszuwählen und zu überprüfen. Ich hoffe, dass die amerikanische Regierung diese Probleme bald löst und wieder mehr Kapazitäten schafft.

SPIEGEL: Hinter der Entscheidung steht vor allem Donald Trump. Aber die EU setzt auf einen ähnlichen Ansatz, auch sie schottet sich zunehmend ab.

Grandi: Da muss man unterscheiden: Es gibt Probleme mit irregulärer Migration, mit Zuwanderern, die eher aus wirtschaftlichen Gründen ihr Land verlassen. Die müssen wir von Flüchtlingen unterscheiden. Das ist kompliziert, aber wichtig.

SPIEGEL: Legale Wege in die EU gibt es aber auch für Flüchtlinge kaum noch, weil die Grenzen vielerorts dicht sind. Sie sind größtenteils gezwungen, illegal einzureisen, wenn sie Asyl beantragen wollen.

Grandi: Das stimmt. Aber es ist wichtig, auf irreguläre Migration zu reagieren, um zu vermeiden, dass zu viele Menschen das Asylsystem missbrauchen. Viele irreguläre Migranten haben keine andere Wahl, als Asyl zu beantragen, und überlasten so das Asylsystem – das muss korrigiert werden. Gleichzeitig dürfen wir nicht vergessen, dass irreguläre Migranten Menschen sind. Ihre Rechte und ihre Würde müssen gewahrt werden. Es ist niederschmetternd zu sehen, wie Migranten dämonisiert und stigmatisiert werden.

SPIEGEL: Andauernde Kriege, Hungersnöte, dazu die Folgen des Klimawandels: In den kommenden Jahren werden eher mehr Menschen flüchten als weniger. Ist die Welt darauf vorbereitet?

Grandi: Sie ist nicht sehr gut vorbereitet. Neue Fluchtursachen wie der Klimawandel wirken sich auf verschiedene Arten aus: Menschen werden etwa nach und nach von untergehenden Inseln fliehen – den Umgang damit kann man planen. Sie werden auch fliehen, weil Naturkatastrophen häufiger vorkommen und größere Schäden anrichten werden – diese Menschen werden ihre Heimat plötzlich verlassen, aber könnten irgendwann zurückkehren. Auf jede dieser Fluchtursachen müssen Staaten mit unserer Hilfe eine maßgeschneiderte Antwort finden.

SPIEGEL: Muss die Genfer Flüchtlingskonvention ausgeweitet werden, um auch Klimaflüchtlinge anzuerkennen?

Grandi: In der gegenwärtigen politischen Situation wäre es äußerst unklug, den Geltungsbereich der Konvention zur Debatte zu stellen. Jeder Versuch, die Konvention zu reformieren, würde mit ziemlicher Sicherheit aktuell dazu führen, dass die Flüchtlingsdefinition verengt oder die gesamte Konvention infrage gestellt würde.

SPIEGEL: Das halten Sie für möglich?

Grandi: Ja, fast überall auf der Welt haben Politiker Erfolg damit, Flüchtlinge als Sicherheitsproblem oder Invasoren zu bezeichnen. Die Gefahr ist, dass das Konzept des Flüchtlingsschutzes ganz verschwindet. Wenn ich Regierungen in Afrika, Lateinamerika und anderen Teilen der Welt auffordere, ihre Grenzen angesichts großer Flüchtlingsströme offen zu halten, fragen sie mich, warum sie das tun sollten. Schließlich wollen sich selbst reichere Länder abschotten. Die EU nimmt derzeit vergleichsweise wenige Flüchtlinge auf – gleichzeitig hat sie mehr Ressourcen zur Verfügung. Europa hat deswegen eine Verantwortung, Flüchtlingen weiterhin Schutz zu bieten.

SPIEGEL: Sie haben beim Global Refugee Forum auch Unternehmen wie Lego und Ikea eingeladen mitzudiskutieren. Sollen jetzt Firmen helfen, wenn sich immer weniger Staaten für den Flüchtlingsschutz engagieren?

Grandi: Nein, die Unterstützung von Flüchtlingen liegt in erster Linie in der Verantwortung von Staaten. Aber warum sollten wir nicht um die Hilfe anderer Akteure werben und Unternehmen einbinden? Wir leben in einer Zeit, in der Flüchtlinge oftmals als Problem dargestellt werden. Da ist jede zusätzliche Hilfe willkommen. Außerdem helfen private Akteure dabei, Arbeitsplätze zu schaffen und Regionen wirtschaftlich voranzubringen, die viele Flüchtlinge aufnehmen.

SPIEGEL: Auf den griechischen Ägäisinseln leben derzeit mehr als 40 000 Migranten und Flüchtlinge in Lagern unter unmenschlichen Bedingungen. Warum schaffen es das UNHCR, die EU und der griechische Staat nicht, diese Menschen angemessen zu versorgen?

Grandi: Ich war vor drei Wochen in Griechenland und habe mit der Regierung gesprochen. Die Zahl der Ankünfte auf den Ägäisinseln war lange Zeit sehr niedrig, aber in den vergangenen Monaten ist sie wieder gestiegen. Unsere Priorität ist es, die Inseln zu entlasten, indem mehr Menschen auf das Festland gebracht werden.

SPIEGEL: Das Flüchtlingsabkommen zwischen der Türkei und der EU sieht aber vor, dass die Asylbewerber bis zu ihrem Bescheid auf den Inseln bleiben.

Grandi: Die griechische Regierung will in den kommenden Monaten 20 000 Asylbewerber aufs Festland bringen, um die Zustände zu verbessern. Anders geht es nicht. Die Kinder werden zuerst von den Inseln gebracht. Kurzfristig ist das die beste Lösung.

SPIEGEL: Die griechische Regierung hat zudem angekündigt, geschlossene Lager zu bauen. Was halten Sie davon?

Grandi: Von außergewöhnlichen Situationen abgesehen, sind wir gegen die Inhaftierung von Asylsuchenden, auch wenn sie in vielen Ländern der Welt Routine ist. Wir müssen nun abwarten, wie die Pläne umgesetzt werden.

SPIEGEL: Wie lange werden Ihre Mitarbeiter in der Ägäis bleiben?

Grandi: 2015 glaubten wir, dass wir nur kurz und ausnahmsweise in Griechenland aktiv werden müssten. Es ist überhaupt das erste Mal, dass das UNHCR eine große Operation in der Europäischen Union organisiert hat, was zeigt, dass es in Europa eine humanitäre Krise gibt. Aber ich habe Premierminister Kyriakos Mitsotakis gesagt, dass wir Griechenlands eigene Kapazitäten ausbauen sollten. Unsere knappen Ressourcen werden in Afrika, Asien und dem Nahen Osten gebraucht.

SPIEGEL: Die EU bezahlt die libysche Küstenwache dafür, dass sie Flüchtende auf dem Meer abfängt. Viele enden in Inhaftierungslagern unter schrecklichen Bedingungen. Halten Sie das für legitim?

Grandi: Menschen in den eigenen Territorialgewässern abzufangen ist nicht illegal. Die Europäer können libysche Institutionen stärken, wenn sie das für richtig halten. Aber ich habe mit dem Ansatz zwei Probleme: Erstens wurde neben der Küstenwache keine andere Institution im Land gestärkt. Und so landen Migranten und Flüchtlinge in Inhaftierungslagern, sobald sie an Land gebracht werden. Zweitens hat die EU ihre eigenen Rettungskapazitäten reduziert, und einige Politiker haben zudem die zivilen Retter kritisiert, die eingesprungen sind. Es wurde sogar so dargestellt, als würden wegen der NGOs noch mehr Menschen fliehen, obwohl das statistisch nicht belegt ist. Das ist eine Schande.

SPIEGEL: Wie ist die Situation in den Inhaftierungslagern?

Grandi: Das sind schreckliche Orte. Allerdings nimmt die Zahl der Menschen, die in den offiziellen, uns bekannten Lagern gefangen sind, zum ersten Mal ab. Das Problem ist, dass in Libyen selbst außerhalb der Lager die Situation für Migranten sehr gefährlich ist. Draußen tobt der Krieg, vor allem subsaharische Migranten werden gekidnappt und ausgenutzt.

SPIEGEL: Im Internet kursiert ein UNHCR-Dokument, in dem steht, dass in einem Flüchtlingslager in Tripolis einige Migranten bald kein Essen mehr bekommen werden. Dem UNHCR wird vorgeworfen, diese Menschen aushungern zu wollen, um sie aus der überfüllten Einrichtung zu vertreiben.

Grandi: Auch Migranten oder Flüchtlinge, die das Zentrum verlassen, bekommen von uns weiterhin Hilfe, auch in Form von Geld. Ich verstehe die Frustration dieser Menschen, wirklich. Das Dilemma, mit dem wir in Libyen konfrontiert sind, ist ein wiederkehrendes Element unserer Arbeit: Entweder wir bleiben und leben mit den Schwierigkeiten vor Ort und mit den moralischen Herausforderungen. Dann können wir ein paar Menschen retten und ausfliegen. Oder wir entscheiden, dass wir keine Kompromisse machen, und verlassen das Land. Die Situation ist ohne Zweifel eine der schwierigsten, in denen wir uns seit Jahren befunden haben.

SPIEGEL: Sie sind beinahe täglich mit Leid und Elend konfrontiert. Wie hat Ihre Arbeit Ihren eigenen Blick auf die Welt verändert?

Grandi: Ich schaue besorgter auf die Welt als noch vor ein paar Jahren. Aber ich bin nicht naiv. Wenn ich glaubte, dass wir nichts mehr tun könnten, würde ich diesen Job nicht mehr machen. Ich denke, dass uns noch Zeit bleibt, um Lösungen zu finden, die nicht aus Zäunen und Mauern bestehen. Aber viel Zeit haben wir nicht mehr.

Migratioun an Asylfro als Menace vun der europäescher Liewensweis

Carte blanche vum Paul Estgen op RTL 2. Oktober 2019

Virun en puer Wochen huet Madamm Ursula von der Leyen, déi designéiert Presidentin vun der Europäescher Kommissioun hir Ressortverdeelung fir déi nei Kommissioun virgestallt. D’Propositioun fir e Ressort mam Numm vum “Schutz vun der europäescher Liewensweis” ze schafen, huet fir vill Opreegung gesuergt. Dozou eng Carte Blanche vum Paul Estgen, Soziolog um Centre Jean 23.

D’Ukënnegung vun der designéierter Presidentin vun der Europäescher Kommissioun ass mat ganz gemëschte Gefiller opgeholl ginn. Verschidde grouss politesch Gruppen aus dem Europaparlament hu ganz kloer zum Ausdrock bruecht, dass dat absolut net akzeptabel ass. Et geet hei manner ëm eng Konzeptklärung, wat een dann ënnert «europäescher Liewensweis » géif verstoen, wei ëm de politeschen Hannergrond. An de Ressort gehéiert dann och d’Migratioun an d’Asylpolitik dozou. Domadder ass jo ënnerschwelleg kloer, dass Madamm von der Leyen d’Migratioun an d’Asylfro als Menace gesäit vun der europäeschen Liewensweis. Jidderee versteet jo gutt, dass et sech heibäi haaptsächlech ëm e Schachzuch handelt, fir déi riets-extrem Tendenzen an Europa ze berouegen. Mä et ass fir mech erschreckend , dass intelligent Leit, déi sech melle fir déi héchsten europäesch Ämter, sech net ze schued sinn, esou Ieselzegkeeten an d’Welt ze setzen. Wéi wann d’Bierger net minimal kënne matdenken, an op en esou plompt Manöver géifen erafalen.

Wann een déi Propositioun géif eescht huelen, dann misst sech jo kennen en kloert Bild maachen, wat dann di Europäesch Liewensweis ass. Wann et se gëtt, géif dat heeschen, dass mer se sou kennen definéieren, dat mer se genau sou bei dem Paräisser Bänker erëmfannen, wei beim rumänesch Bauer; dass dat genau sou gesinn gëtt bei den Finnen an am Norden , wei den Malteser am Süden, dass d’Liewensweis vun mengen Elteren sech net fundamental ënnerscheet vun dem vun mengen Kanner. An wat ass iwwerhaapt Liewensweis ? Denken mer do éischter un en Liewensstil oder iwwert Grondwäerter déi ons Kultur ënnermaueren ? Mee dann hätt en besser et géif en vun europäescher Kultur oder Identitéit schwätzen.

An der Soziologie gëtt dës Begrëfflechkeet vun „Liewensweis“ jiddefalls net vill hier, fir ze verstoen, wat d’Kommissioun dann elo domadder mengt.

Natierlech gouf d’Madamm von der Leyen dorops ugeschwat. Si berifft sech dann op Grondwäerter, déi am EU-Vertrag stinn: Mënschenwierd, Fräiheet, Demokratie, Gläichheet an Rechtsstaatlechkeet. An dësem Sënn wär et dann éischter ubruecht, fir den «Schutz vun den europäeschen Grondwäerter» als Titel ze benotzen. An da kéint een och d’Zesummeleeë vun der Fro vu Migratioun an Asyl an dësem Kontext als e positive Schrëtt deiten: eng europäesch Politik, déi sech elo endlech ëm eng kohärent Migratiouns an Flüchtlingspolitik këmmert. Dat heescht, dass mer aus Grënn vun der Mënschewierd direkt domadder ophalen Diktaturen ze bezuelen, domadder mengen ech Tierkei a Libyen, fir ons d’Flüchtlinge vum Hals ze halen. Dass dann Europa alles a Beweegung setzt, fir d’Leit aus dem Mëttelmier ze retten, dass mer eng aner Léisung sichen, fir d’Flüchtlingen op Lesbos, wou se ënnert dramatesche Konditioune mussen drop waarden, ob se ugeholl ginn, fir eng Asylprozedur. Dass mer endlech Dublinreegelen ofänneren, Prinzip wou d’Flüchtlingen an deem Land wou se ukommen och musse bleiwe, a wat just d’Symbol ginn ass vun engem Europa ouni Solidaritéit tëscht de Länner.

Fir mech also e kloren Nee zu engem Ressort mam Numm „Schutz vun der europäescher Liewensweis“ , mä e kloert Jowuert zu eng Titel : „Schutz vun den europäeschen Grondwäerter“. Ons Liewensweis ka roueg verschidde sinn, mä ech hoffen, dass mer als Europäer eng Rëtsch vu Grondwäerter deelen, an dann och bereet sinn, dës ze verdeedegen.