Corinne Cahen: Die Ministerin, die früher hätte gehen müssen
Corinne Cahen hat mit dem flexiblen Elternurlaub bewiesen: Wenn ihr etwas am Herzen liegt, liefert sie. Bei Integration, Armut und in der Covid-Krise fehlte es an Führungsqualität.
Es war eine unmissverständliche Frage: Was sie tun möchte, damit sich weniger Bewohner infizieren und sterben, hatte das „Luxemburger Wort“ Corinne Cahen am 19. Januar 2021 gefragt. Da rollte gerade die zweite und heftigste Covid-19-Infektionswelle durch die Alten- und Pflegeheime. Zwei Drittel der am SARS-CoV-2 Virus Verstorbenen waren älter als 80, ein weiteres Drittel zwischen 60 und 80, nur knapp 3,5 Prozent waren jünger. Die Kritik an der zuständigen damaligen DP-Familienministerin nahm ihren Höhepunkt.
Mittlerweile war es nicht mehr nur die politische Opposition, und allen voran die CSV, die sich an dem vermurksten Krisenmanagement besonders bei den Alten und Schwachen rieb. Menschenrechtsorganisationen und Berufsverbände bemängelten ebenfalls die inkohärente Test- und Impfpolitik. Rücktrittsforderungen wurden laut und es war der Premierminister und liberale Parteikollege, Xavier Bettel, der sich schlussendlich vor die Ministerin stellte – mit einer Falschaussage. Das betreute Wohnen falle nicht in Cahens Zuständigkeit – dabei sind die betreuten Seniorenwohnungen gesetzlich sehr wohl dem Familienministerium zugeordnet.
Waringo-Bericht: Gravierende Lücken im Schutzkonzep
Schließlich, nach mehreren hitzigen Kommissions- und Chamberdebatten auf Grund des wachsenden politischen und öffentlichen Drucks, verständigten sich Regierungsmehrheit und Opposition auf eine externe Untersuchung durch den pensionierten ehemaligen Direktor der Finanzinspektion, Jeannot Waringo.
Wie unabhängig diese Untersuchung war, darüber sollte später viel diskutiert werden. Denn in dem Bericht wurden nur elf Häuser untersucht, den Experten blieben nur acht Wochen für ihre Enquete. Aber auch für sie stand fest: Es gab gravierende Schutzlücken in der Strategie, die Cluster in den Heimen einzudämmen und zu verhindern.
So gesehen, hat die Ministerin, die selbst oft Fotos von Besuchen in Altersheimen auf Facebook veröffentlichte und ihren guten Kontakt zum Dachverband der Heimträger Copas sowie Heimdirektionen betonte, die schlechteste persönliche Bilanz während des Covid-19-Krisenmanagements zu verbuchen.
Ob die schlechte Note allein ihr gebührt – darüber lässt sich streiten, denn die Lieferung von Tests, die mobilen Teams, die in den Heimen testeten und impften, der Einsatz von Schnelltests, die Impfung von externen Dienstleistern fielen alle in die Kompetenz der Gesundheitsbehörden, also von Gesundheitsministerin Paulette Lenert (LSAP).
Statt klarer Richtlinien nur Empfehlungen
Auch in ihrer anderen Zuständigkeit, als Ministerin der Großregion, hat Cahen während der Krise kaum bleibende Akzente setzen können: Die brisante, mit dunklen Erinnerungen aufgeladene Grenzfrage während der Lockdowns in den Nachbarländern diskutierten Jean Asselborn und Xavier Bettel auf höchstem diplomatischen Niveau mit Berlin, Paris und Brüssel. Die Sorge um die freie Fahrt für französisches, deutsches und belgisches Gesundheitspersonal, das in Luxemburg arbeitete, war ebenfalls Chefsache.
Corinne Cahen hatte beharrlich daran festgehalten, die Covid-Eindämmung den Heimen zu überlassen und sich selbst bei steigenden Infektionszahlen mit Empfehlungen zum Schutz begnügt.
Die mangelnde Koordination und der andauernde Verzicht auf klare Anweisungen zum Testen und Impfen in den Heimen, anstelle von Empfehlungen, die zudem kaum überprüft wurden, waren bereits nach der ersten Welle im Herbst 2020 kritisiert worden. Cahen hatte dennoch beharrlich daran festgehalten, die Covid-Eindämmung den Heimdirektionen zu überlassen und sich selbst bei steigenden Infektionszahlen mit Schutz-Empfehlungen begnügt. Der erste dreistufige Schutzplan kam Ende Dezember von der Leitung des Heimträgerdachverbands Copas – politische Führung und optimaler Schutz besonders vulnerabler Personen während einer Pandemie sehen anders aus.
Eine Konsequenz aus dem teils tödlichen Chaos war, einen neuen, für alle Träger verbindlichen Rahmen für die Qualitätssicherung in den Alters- und Pflegeheimen zu schaffen. Eine Chance für die Ministerin, das arg ramponierte Ansehen durch Fleißarbeit aufzupolieren. Doch der erste Entwurf wurde vom Staatsrat zerrissen, und auch ein zweiter hielt den strengen Augen des Gremiums nicht statt. Drei Anläufe brauchte es, um das Gesetz kurz vor den Sommerferien durchs Parlament zu bringen. Verabschiedet hat es Cahen nicht mehr selbst, sondern ihr Nachfolger Max Hahn. Die DP-Politikerin war am 12. Juni freiwillig zurückgetreten, um für die Gemeindewahlen in Luxemburg-Stadt zu kandidieren.
Zusammenleben auf dem Papier, Spaltung in der Praxis
Im Bereich Integration hat sich Cahen mit Symbolpolitik begnügt. Die Erwartungen waren zum Beginn der Legislaturperiode auch entsprechend niedrig. Nur eine halbe Seite wurde der Integrationspolitik im Koalitionsabkommen gewidmet. Was davon in Erinnerung bleiben wird: das Gesetz über das interkulturelle Zusammenleben, das das alte Integrationsgesetz ersetzen sollte. Auf dem Papier eine ideologische Revolution: Nun geht Integration alle etwas an. Egal ob Luxemburger oder Nicht-Luxemburger. Beide können den Pacte Citoyen unterschreiben und gemeinsam thematische Kurse über das Leben in Luxemburg besuchen.
So die Theorie. Wie die Praxis ausschauen könnte, das kritisiert die Zivilgesellschaft bereits jetzt: Dem Gesetz fehle es an Zielen, die Bedeutung des Benevolats für den Integrationsbereich werde außen vor gelassen, Wahlmodule würden angeboten, mit Themen, die herzlich wenige Luxemburger ansprechen dürften.
Da Integration nun alle etwas angeht, wirft der politische Stil Cahens bei der Erstellung des Gesetzes Fragen auf. Der Text wurde in den letzten Chamber-Tagen über die Bühne gebracht – oder viel eher durchgewunken. Der Konsultations-Prozess mit der Zivilgesellschaft ist im Zuge der Pandemie abrupt unterbrochen worden. Eine öffentliche Konsultation mit den Hauptbetroffenen, den Bürgern, hat Cahen nie in Betracht gezogen.
Neues Branding für alte Integrationsinstrumente
Die nun ehemalige Integrationsministerin hat es vor allem verpasst, nach zehn Jahren im Amt überholte Integrationsinstrumente rechtzeitig zu aktualisieren. Das hat eine 2021 veröffentlichte Studie der OECD über das Luxemburger Integrationssystem ergeben. Während sich jährlich fast 20.000 Menschen aus dem Ausland in Luxemburg niederlassen, haben 2019 nur 1.664 den Contrat d’Accueil et d’Intégration (CAI) unterschrieben. Ein Misserfolg.
Die 240 Sprachstunden, die im Kontext des CAI angeboten wurden, sind unzureichend, um den notwendigen Sprachlevel zu erreichen, um an Aktivierungsprogrammen der ADEM teilzunehmen und somit eine Arbeit zu finden. Gleiches beim Parcours d’Intégration accompagné (PIA). Dieser bietet noch weniger Sprachstunden an: 120. Genug, um nach den Standards des Gemeinsamen Europäischen Referenzrahmens (GER) das niedrigste Sprachniveau A1 zu erreichen. Obwohl PIA und CAI sich nicht bewährt haben, schwört Cahen in dem neuen Gesetz weiterhin auf die gleichen Instrumente – nur mit anderem Namen. PIA und CAI wurden zusammengelegt und heißen nun „Programme du Vivre-ensemble interculturel“ – anderer Name, gleiches Prinzip.
“Ich habe nirgendwo gespürt, dass Nationalitäten diskriminiert werden”. Corinne Cahen Ehemalige Familien- und Integrationsministerin
Was die Vision der Corinne Cahen vor allem geprägt hat: ihr blindes Auge für Diskriminierung. Während sie im LW-Interview behauptete, „Ich habe nirgendwo gespürt, dass Nationalitäten diskriminiert werden“, so meldete das Zentrum für Gleichbehandlung (CET) im Jahr 2021 einen Anstieg der Fälle in Zusammenhang mit Diskriminierung. 245 waren es in dem Jahr. Ein neuer Negativrekord. Statt Integration aus Sicht der Nicht-Luxemburger zu sehen, hat Cahen das Thema interkulturelles Zusammenleben immer wieder als bloße Visitenkarte für Luxemburgs Weltoffenheit missbraucht.
Eine positive Änderung hat das neue Gesetz mit sich gebracht: die Reform des Conseil national des étrangers (CNE). Das „Sorgenkind“ von Corinne Cahen, wie sie es selber in der Vergangenheit bezeichnet hatte.
Flexibler Elternurlaub – ein Sieg in der Familienpolitik
Corinne Cahen hat im Bereich der Familienpolitik gezeigt, dass sie bei Themen, die ihr am Herzen liegen, auch Resultate vorzeigen kann. Stichwort Elternurlaub. Die Flexibilisierung des Elternurlaubs 2016 zeigt heute Wirkung. Beantragten 2016 noch 4.361 Personen Elternurlaub, so sind es heute rund 15.000. Hierbei auffällig: Der Graben zwischen Müttern und Vätern schließt sich seit der Reform. 2021 waren 51,8 Prozent der Elternurlaube von den Müttern und 48,2 von den Vätern genommen worden. Während 2016 nur 1.163 Männer einen Vaterschaftsurlaub beantragten, waren es im letzten Jahr 5.663.
Um die Vereinbarung zwischen Arbeit und Familie stärker zu gewährleisten, hat Cahen zusammen mit Arbeitsminister Georges Engel (LSAP) zudem den Congé d’Aidant eingeführt und den zehntägigen Vaterschaftsurlaub für Selbstständige und gleichgeschlechtliche Paare geöffnet. Ein Sieg für Cahen in der Familienpolitik.
Armut steigt, Revis versagt
Wie Cahen die Bekämpfung von Armut angegangen ist, beweisen die Zahlen: Fast 20 Prozent der Bevölkerung waren 2021 einem erhöhten Armutsrisiko ausgesetzt, 2012 lag die Quote noch bei 15,1 Prozent, und bei Alleinerziehenden sind es sogar über 40 Prozent. Luxemburg ist trauriger EU-Spitzenreiter in Sachen working poor. Bedeutet: 13,5 Prozent der Menschen sind arm, trotz Arbeit. Immer mehr Menschen sind auf Sozialhilfe angewiesen.
Die Einführung des Einkommens zur sozialen Eingliederung (Revis) hätte ab 2019 Entlastung bringen müssen. Erst vor Kurzem präsentierte der frisch gebackene Familienminister Max Hahn die Bilanz des Revis. Die Schlussfolgerung der Studie: Der Revis hat Positives mit sich gebracht, zeigt aber noch Schwachstellen. Familien mit Kindern und Alleinerziehende haben über 19 bis 51 Prozent mehr finanzielle Mittel zur Verfügung als beim Vorgänger des Revis, dem garantierten Mindesteinkommen (RMG). Der Revis habe zudem die berufliche Aktivierung gefördert.
So die Sicht der Regierung. „Um terrain“ sprechen Experten viel eher von einem Reinfall. Paare ohne Kinder beziehungsweise Alleinstehende haben im Vergleich zum RMG weniger Geld zur Verfügung. Die Strafen, sollte ein Revis-Empfänger seinen Verpflichtungen nicht nachkommen, seien oft unverhältnismäßig.
Vor allem aber hat die Einführung des Revis eine starke Bürokratisierung mit sich gebracht. Die Zuständigkeiten bei der Betreuung von Empfängern sei zudem unübersichtlich. Sozialhilfeempfänger haben mit drei, vier, fünf oder noch mehr verschiedenen Professionellen und Diensten zu tun. Der erste Ansprechpartner ist nun die ADEM statt das Sozialamt. Nach dem Motto: Wer arbeitet, schafft es aus der Misere heraus. Dabei sind viele Sozialempfänger oft nicht arbeitsfähig, oder alleinerziehende Eltern können aufgrund fehlender Kinderbetreuung nicht an Aktivierungsmaßnahmen der ADEM teilnehmen.
Die Zwischenbilanz des Revis steht symbolisch für die Politik von Corinne Cahen: schönreden statt aktiv besser gestalten.