Das migrantische Paradoxon – von den Widersprüchen in einer Debatte

Editorial  Stefan Kunzman, tageblatt 11.Februar 2025
Editorial / Das migrantische Paradoxon – von den Widersprüchen in einer Debatte
Rafael Gonzalez, studierter Mathematiker, der hierzulande eine Ausbildung zum Maler macht Foto: Editpress/Julien Garroy

Es ist lange her, dass Pierre Gramegna (DP), von 2013 bis 2022 Finanzminister, in seiner früheren Funktion als Generaldirektor der Handelskammer über „The Luxembourg paradox“ eine Rede hielt. Schließlich war es eine Zeit, in der die Arbeitslosigkeit zunahm und zugleich unzählige neue Stellen geschaffen wurden. Auch Nicolas Schmit (LSAP) sprach als Arbeitsminister in einem Interview mit dem Tageblatt von einem Paradox, „dass wir jährlich Tausende von Jobs schaffen, diese aber nicht unbedingt den Menschen auf dem Markt entsprechen“.

Heutzutage kranken nicht wenige Länder Europas an ihrer Migrationspolitik, wie der Politikwissenschaftler und Migrationsforscher Hannes Schammann konstatiert: „Mit schwerem Verlauf. Auf der Suche nach der richtigen Medizin wird hektisch im Arzneischrank gewühlt. Beipackzettel mit Nebenwirkungen werden ignoriert. Weil aber nichts so richtig helfen will, soll neue Medizin her: Politikwechsel, 27 Sofortmaßnahmen, fünf Punkte – möglichst einfach, hart, schnell.“ Schammann warnt davor. Schließlich sind politische Maßnahmen keine Medizin, und Migration ist keine Krankheit.

Trotzdem befinden sich Länder wie das unserer deutschen Nachbarn, bei denen zurzeit das Bundestagswahlfieber steigt, in einem Abschottungstaumel. Angetrieben von Scharlatanen aus der – laut Beipackzettel – „in Teilen rechtsextremen“ AfD, die Gifte wie Remigration nicht mehr nur unterm Ladentisch „verhö(c)kern“, sondern als Gratisprobe in „wohltemperierter Grausamkeit“ anpreisen, werden die sich sonst so wirtschaftsnah und weltmännisch gebärdenden Christdemokraten à la Friedrich Merz wahlweise zu autoritären Steigbügelhaltern oder Bettvorlegern. Ob Merz einst bei BlackRock eine Zusatzausbildung zum neoliberalen Quacksalber absolvierte? Wohl nicht. Unterdessen hat Giorgia Meloni ihre homöopathischen Mittelchen schon mit der Muttermilch bekommen und das eine oder andere Jugendcamp mit der Fronte della Gioventù getestet. Dass sich daraus die Idee ableiten ließe, Asylbewerber nach Albanien auszulagern, hätte man sich denken können. Woher das britische Ruanda-Modell stammt, gilt noch zu erforschen.

Dass eine Reihe von Migranten „irregulär“ nach Luxemburg kommt, musste der hiesige Innenminister Léon Gloden (CSV) gar nicht erst betonen. Flüchtlinge etwa aus Venezuela können ihm zufolge hierzulande nicht mit einem Bleiberecht rechnen. Wirtschaftliche Gründe seien keine Asylgründe. Doch eine ökonomische Dimension hat der nicht behobene Fachkräftemangel durchaus. Er betrifft nicht nur Finanzexperten und Wissenschaftler, sondern auch andere Branchen. Vor wenigen Tagen war im Tageblatt von einem studierten Mathematiker aus Venezuela zu lesen, der hierzulande eine Malerlehre absolviert. Ein paar Tage später ging die Nachricht von einem ausgebildeten Zahnarzt aus demselben Land ein, der sich als Essenslieferant und Reinigungskraft verdingt hat. Die Liste lässt sich beliebig weit fortsetzen. Mit einem Ivorer etwa, der in einer Ausbildung zum Elektriker ist, aber keine „Autorisation d’occupation temporaire“ (AOT) mehr hat und dessen Asylgesuch dreimal abgelehnt wurde, oder mit einem Mann aus Guinea, der sich für eine Bäckerlehre entschied.

Migrationsfeindliche Politiker haben längst begonnen, die roten Linien der Grundrechte und der internationalen Übereinkommen wie etwa jene der Genfer Flüchtlingskonvention zu überschreiten. Sie stilisieren das hochkomplexe Thema Migration frei nach den Worten des Politologen Albrecht von Lucke „komplexitätsreduzierend“ zur saisonübergreifenden Langzeiterkrankung hoch. Im selben Atemzug wird die Regression des Sozialen vorangetrieben, das Feindbild „Sozialschmarotzer“ an die Wand gemalt und das Bürgergeld zur sozialdemokratischen Autoimmunerkrankung deklariert. Derweil erleidet die Demokratie eine bedrohliche Schnappatmung. In Luxemburg handelt es sich zum Glück nur um das übliche Paradox in abgewandelter Form, heilbar an der frischen Luft. Das befreit die Gedanken.