Durchs soziale Netz gefallen – das will Max Hahn ändern
Die Zeit, die ihm im vergangenen Jahr fehlte, will der Familienminister nun nutzen, um eigene Pläne in den Bereichen Armut, Senioren und Flüchtlinge umzusetzen.
Als Max Hahn (DP) am 15. Juni 2023 die Nachfolge von Corinne Cahen im Familien- und Integrationsministerium antrat, waren die Tage von Blau-Rot-Grün schon fast gezählt. Es fehlte an Spielraum für eigene Ideen. Dafür hat er nach seiner Wiederwahl in der schwarz-blauen Regierung nun fünf weitere Jahre Zeit. Das „Luxemburger Wort“ sprach mit ihm über seine Prioritäten und kritische Dossiers. Dazu gehört auch seine neue Aufgabe, die Unterbringung von Flüchtlingen.
Max Hahn, Sie haben nur einen sehr kleinen Teil der letzten Legislaturperiode als Minister miterlebt. Da war es wahrscheinlich schwierig, richtig im Familienministerium anzukommen?
Ich hatte den Vorteil, dass ich vorher schon zehn Jahre lang Abgeordneter war, und die letzten fünf Jahre als Präsident der Familienkommission auch teilweise Berichterstatter für Gesetze. Es war also kein komplettes Neuland für mich.
Es war in der kurzen Zeit aber nicht möglich, eigene Akzente zu setzen?
Ich habe mir damals vorgenommen, das so anzugehen, wie ich es am Anfang einer Amtszeit machen würde. Man kann ja auch mit kleinen Dingen etwas verändern oder verbessern. Es muss nicht immer ein neues Gesetz sein. Die ersten Monate habe ich genutzt, um mich in die Themenfelder einzuarbeiten und gleich am Anfang auch den Austausch mit den Akteuren „vum Terrain“ gesucht. Mir war es wichtig, den Puls zu fühlen und so die Zusammenhänge besser zu verstehen. Diese Erfahrungen haben mir letztlich geholfen, am Koalitionsprogramm mitzuarbeiten. In den nächsten fünf Jahren werde ich versuchen, die Weichen zu stellen.
Inwiefern unterscheiden Sie sich von Ihrer Vorgängerin? Werden Sie der Familienpolitik Ihren eigenen Stempel aufdrücken?
Ich bin Max Hahn und Corinne Cahen ist Corinne Cahen. Jeder ist anders. Das Koalitionsabkommen ist die Roadmap für die einzelnen Minister. Wie man es umsetzt, hat vielleicht damit zu tun, wie man funktioniert. Wenn man Politik macht, versucht man natürlich immer irgendwo seinen Stempel aufzudrücken und Dinge umzusetzen, für die man brennt. Gerade wenn wir über ein Thema wie die Armutsbekämpfung reden, habe ich sicherlich noch viele Pläne. Auch im Bereich der Behinderung, wo es heute viel mehr um die Frage geht, wie wir Menschen mit Handicap besser integrieren und dafür sorgen können, dass sie keine Barrieren mehr in ihrem Leben haben.
Konkret gefragt: Haben wir in Luxemburg ein Armutsproblem?
Ja, und mich interessiert die ganze Diskussion nicht, ob die Armutsgefährdungsquote jetzt für ein reiches Land wie Luxemburg relevant ist. Für mich gilt: Jeder Arme ist einer zu viel.
Premier Luc Frieden hat dagegen in Interviews gesagt, dass er die Auslegung einiger Statistiken in unserem speziellen wirtschaftlichen Umfeld infrage stellt. Aber Sie wollen das Problem oder die Zahlen nicht relativieren?
Das ändert ja nichts. Wenn Menschen finanzielle Probleme haben, müssen wir ihnen helfen. Dann ist es an sich irrelevant, ob es 17,1 oder 16,5 Prozent sind. Natürlich ist Armut in Luxemburg etwas anderes als in anderen Ländern. Wir sprechen ja auch von Armutsgefährdung und von der Schere zwischen Arm und Reich. Wichtig zu betonen: Die Hälfte unserer Ausgaben im Staatshaushalt fließt in die Solidarität und Soziales.
Warum bleibt das Armutsrisiko dennoch so hoch?
Wir müssen das Ganze so gestalten, dass es auch bei den Menschen ankommt. Ich bin überzeugt, dass wir ein sehr performantes Sozialnetz haben. Aber die Auffangnetze funktionieren noch nicht in allen Fällen. Es reicht nicht, die Leistungen an die Lohn- und Preisentwicklung anzupassen, wir müssen auch das Phänomen der Nichtinanspruchnahme angehen. Deshalb die Idee eines digitalen Sozialamtes, das ermöglicht, auf einen Blick zu sehen, welche Leistungen man beanspruchen kann. Der Mietzuschuss zum Beispiel wird nur von 25 Prozent der Berechtigten in Anspruch genommen. Das muss sich bessern. Wenn wir in Luxemburg von Armut sprechen, dann hat das etwas mit den hohen Lebenshaltungskosten zu tun, vor allem mit den hohen Wohnungspreisen. Armutsbekämpfung betrifft letztlich mehrere Ministerien.
Der Koalitionsvertrag sieht weitere Maßnahmen vor, aber keine neue Reform des Revis, obwohl eine Studie zahlreiche Schwachstellen aufgedeckt hat?
Gleich nach der Vorstellung der Studie hatte ich einen Austausch mit der Entente des Offices Sociaux, und es gab auch Gespräche mit der ADEM, um zu sehen, was wir in dem ganzen Prozess verbessern können, ohne an den Gesetzestext gehen zu müssen. Es wurden bereits Anpassungen vorgenommen, die sehr hilfreich sind. Eine der wichtigsten Schlussfolgerungen für mich ist, dass wir aktiver werden müssen im Bereich der „travaux d’utilité collective“ (TUC), um mehr Revis-Empfänger in die Arbeit zu bekommen. Ich möchte jedoch betonen, dass sich die berufliche Aktivierung durch den Revis im Vergleich zum RMG verbessert hat. Es wurden mehr Anreize geschaffen, aber es gibt noch Verbesserungspotenzial. Armutsbekämpfung bleibt ganz klar eine unserer Prioritäten.
Nun stand in den letzten Wochen das Bettelverbot im Vordergrund und damit auch der Vorwurf, die Regierung wolle vielmehr die Armen bekämpfen.
Ich konzentriere mich darauf, die Armut zu bekämpfen. Dazu gehört auch die Obdachlosigkeit, die wir hier im Haus konkret angehen, indem wir zum Beispiel die Housing-First-Strukturen ausbauen. Wir haben dafür gesorgt, dass im Rahmen der Winteraktion mehr Betten zur Verfügung stehen. In all unseren Strukturen werden wir die Kapazitäten erhöhen, um mehr Menschen aufnehmen zu können und auch die soziale Betreuung sicherzustellen. In Zusammenarbeit mit der Santé werden wir zusätzliche Dienste mit Psychologen und Ärzten anbieten, insbesondere da die Zahl der psychisch Kranken und Drogenabhängigen auf der Straße zunimmt.
Sie zählen viele Maßnahmen auf. Ist das alles finanzierbar?
Wenn wir versucht haben, in einem Bereich aktiv zu werden, dann im Sozialbereich. Wie gesagt, die Hälfte unseres Budgets fließt in Sozialleistungen. Wir müssen als Gesellschaft solidarisch sein. Das war Luxemburg in der Vergangenheit und das wird es auch in der Zukunft sein.
Vor dem Sommer wurde das Gesetz über die Qualität der Dienstleistungen für ältere Menschen verabschiedet. Wie ist der Stand der Dinge?
Am 1. März tritt es in Kraft. Das bringt viel Sicherheit und vor allem Transparenz in Bezug auf Preise und Qualität. Wir geben uns damit klare Regeln, gerade aufgrund der Erfahrungen während der Pandemie oder Dossiers wie der Fall Orpea in Frankreich, der gezeigt hat, wie schnell es zu Missständen kommen kann. Wir wollen verhindern, dass schwarze Schafe einen ganzen Sektor in Verruf bringen.
Gibt es genügend Altenheime und Personal? Und können sich die Menschen das leisten?
Ein ganz wichtiges Gesetz, das wir schnell durchbekommen wollen, ist jenes, mit dem wir eine Zusatzbeihilfe für ältere Menschen einführen, die sich kein Zimmer in einem Altenheim leisten können. Damit werden auch die Kosten für grundlegende Produkte und andere Dienstleistungen abgedeckt. Es gibt praktisch niemanden, der nicht irgendwann in ein Heim kommt. Die durchschnittliche Aufenthaltsdauer beträgt dreieinhalb bis vier Jahre. Bei einem Drittel ist es sogar weniger als ein Jahr. Das liegt daran, dass die Menschen immer länger zu Hause bleiben wollen. Im Moment haben wir genug Betten, und es sind noch Projekte im Bau oder in Planung. Das nötige Personal zu finden, ist eine große Herausforderung, die wir übrigens in sehr vielen Bereichen haben. Die einzelnen Anbieter sind gefordert, zusätzliche Anreize zu schaffen, um auch Pflegekräfte aus der Grenzregion anzuziehen.
Wie sieht es mit Wohngemeinschaften oder betreutem Wohnen für Senioren aus, soll es dafür einen gesetzlichen Rahmen geben?
Was wir zum Beispiel fördern wollen, ist das intergenerationelle Wohnen. Ob das unbedingt auf gesetzlicher Basis geschehen muss, sei dahingestellt. Aber im gesamten Bereich der Wohnstrukturen für ältere Menschen tut sich etwas. Wichtig ist uns aber auch, dass der Übergang vom Erwerbsleben in den Ruhestand gelingt, damit niemand in ein Loch fällt. Die soziale Isolation im dritten Alter ist eine Realität, der wir entgegenwirken müssen, sei es durch die Förderung des Ehrenamts oder durch das Angebot von sogenannten Clubs Aktiv+ in allen Gemeinden
Als Minister sind Sie nicht nur für das Familienressort zuständig, sondern auch für die Unterbringung von Flüchtlingen. Kein einfaches Dossier, vor allem seit die Asylpolitik restriktiver geworden ist und es Wartelisten für Dublin-Flüchtlinge gibt?
Es ist in der Tat ein brisantes Dossier, das mich sehr beschäftigt, weil wir eigentlich jeden Tag eine neue Dringlichkeit haben. Ich muss einfach noch einmal sagen, wie solidarisch Luxemburg im Vergleich zu seinen Nachbarländern ist. Es gibt nur noch vier Mitgliedsländer, die ihren Verpflichtungen bei der Aufnahme von Flüchtlingen nachkommen. Luxemburg kann nicht das auffangen, was andere Länder nicht tun. Deshalb waren wir gezwungen, Wartelisten einzuführen. Im Moment stehen etwa 70 Personen darauf.
Wie viele Betten sind noch frei? Kommen weitere Einrichtungen?
Wir haben noch 65 freie Betten. Das ist ein historischer Tiefstand. Familien mit Kindern haben absoluten Vorrang vor allein reisenden Männern, die bereits in einem anderen Land registriert sind. Ohne konkrete Projekte nennen zu wollen, kann ich versichern, dass wir in absehbarer Zeit 200 zusätzliche Betten bekommen werden. Damit haben wir wieder etwas mehr Luft. Es müssen aber dringend Lösungen auf EU-Ebene gefunden werden. 8.000 Betten bei 660.000 Einwohnern – wenn andere Länder solche Zahlen im Verhältnis zu ihrer Einwohnerzahl hätten, dann würden wir in Luxemburg nicht von Wartelisten sprechen, dann bräuchten wir unsere 8.000 Betten nicht.
Zur Person
Als ausgebildeter Elektroingenieur war Max Hahn vier Jahre lang für ein Ingenieurbüro im Bereich der Energieberatung tätig. Außerdem war er Ausbildungsoffizier bei der Berufsfeuerwehr der Stadt Luxemburg. Seit 2005 war er Mitglied des Gemeinderates von Dippach, seit 2011 erster Schöffe und seit Dezember 2013 Abgeordneter.
Nach dem Rücktritt von Corinne Cahen übernahm Hahn am 15. Juni 2023 das Ministerium für Familie und Integration. Seit dem 17. November 2023 ist der 42-Jährige Minister für Familie, Solidarität, Zusammenleben und die Unterbringung von Flüchtlingen.