„Eines Tages werde ich Chirurg sein“
Vor fünf Jahren kamen Tausende Geflüchtete ins Land. Wo stehen sie heute? Der Afghane Khadem hat Französisch und Luxemburgisch gelernt. Er hat einen festen Job gefunden. Um seinen wirklichen Traum zu erfüllen, muss er Luxemburg aber vielleicht wieder verlassen.
Sobald Khadem Hussain Karimyar ein Krankenhaus betritt, ist er glücklich. Schon als kleiner Junge wusste er, dass er einmal Chirurg werden möchte. „Herr Doktor“, nennen sie ihn, sein Vater, seine Mutter und seine zwei jüngeren Schwestern. Aus ihren Stimmen sprechen Bewunderung und Stolz, aber auch großer Schmerz. Lange ist es her, dass der junge Afghane ihre Worte nicht durch eine Telefonleitung hören musste. Ebenso lange ist es her, dass sein Medizinstudium kein ferner Traum, sondern Wirklichkeit war.
Noch im Juni 2015 studierte Khadem Hussain Karimyar Medizin im zweiten Jahr an der Universität in Masar-e Scharif in Afghanistan. Er war Klassenbester, hatte viele Freunde. Doch dann musste er gehen. Wie für viele andere, vor allem junge Männer in Afghanistan, war das seit Jahren vom Bürgerkrieg gebeutelte Land auch für ihn nicht mehr sicher. Mit dem kontinuierlichen Rückzug ausländischer Truppen, nahmen auch bewaffnete Aufstände, Anschläge und Vertreibungen wieder zu.
Khadem floh zunächst in den Iran, mit Hilfe von Schleppern dann über die Türkei weiter nach Griechenland. Im Zickzackkurs ging es durch Südosteuropa, nach einem kurzen Zwischenstopp in Deutschland landete er letztlich in Luxemburg. „Ein kleines, offenes Land mit einer neuen Uni“: das klang für Khadem vielversprechend. Mit der Kleidung, die er am Körper trug, und etwas Geld in der Hosentasche stand er im Oktober 2015 auf dem Vorplatz des hauptstädtischen Bahnhofes und suchte die Polizei.
Eine Ankunft mit Hindernissen
2.447 Anträge auf Asyl wurden 2015 in Luxemburg gestellt, so viele in einem einzigen Jahr wie seit 1999 nicht mehr. Damals flüchteten knapp 3.000 Menschen aus dem ehemaligen Jugoslawien nach Luxemburg. 2015 kamen die Menschen nun vornehmlich aus Syrien und dem Irak, auch aus dem Kosovo und aus Afghanistan. Ein Feldbett in dem von der Regierung eilig aufgebauten Erstaufnahmezentrum in der „Halle 6“ der LuxExpo war auch Khadems erste Schlafstätte – im Herbst 2015, in einem winzigen Land im Herzen von Europa, fast 7.000 Kilometer weg von Zuhause.
Auch mit Anfang 20 sind die meisten ja noch kleine Jungs. Sie sehnen sich nach Ruhe, Geborgenheit, einem Familienersatz.“Marianne Donven
Khadem war 22 Jahre alt, als er einen Asylantrag bei der Immigrationsbehörde stellte. Nach kurzem Hin und Her zog er in das heute nicht mehr existierende Flüchtlingsheim in Rippig in der Nähe von Junglinster. Mit knapp zwei Dutzend weiteren männlichen Afghanen, auf drei Zimmer verteilt. Alle Anfang 20, alle alleinstehend. Einer hört Musik, einer raucht, ein anderer telefoniert, zwei diskutieren, Khadem versucht, zu lernen. Ein abgebrochener Lebenslauf, ein Neuanfang in einem fremden Land: Das sind für ihn keine Gründe, seinen Plan, Medizin zu studieren, aufzugeben. Er las, was er finden konnte, lernte Sprachen. So schnell wie möglich wollte er die Anforderungen für ein Medizinstudium in Luxemburg erfüllen.
Doch die Situation im Flüchtlingsheim wurde immer unerträglicher. „Es war zu eng, es gab viel Streit, ich wollte da raus. Und überhaupt, wie soll ich mich in Luxemburg einleben, wenn ich nur mit Afghanen zusammen bin? Wie soll ich Luxemburgisch und Französisch lernen, wenn es keiner mit mir spricht?“ Er war unglücklich und wunderte sich über die Entscheidungen der Luxemburger Behörden.
Neue Familie und neue Chancen
Von einem „unglücklichen Einzelfall“ spricht eine Mitarbeiterin des Nationalen Aufnahmeamtes (ONA). Bei der Verteilung auf die Flüchtlingsheime sei man stets sehr darauf bedacht, für eine kulturelle Durchmischung zu sorgen. Statt nach Herkunftsländern, werde eher nach Familienzusammensetzungen, dem Grad an Selbstständigkeit oder auch der Abhängigkeit von medizinischer Hilfe ausgewählt. Natürlich immer im Hinblick auf die Verfügbarkeit der Plätze in den unterschiedlichen Strukturen. Für die Zusammensetzung in Rippig hat die Mitarbeiterin keine Erklärung.
Doch Khadem hatte Glück. Als einer von rund 150 Geflüchteten konnte auch er dank der 2016 gegründeten Bürgerinitiative „Oppent Haus – Open Home“ in einem Privathaushalt untergebracht werden. Nach wenigen Monaten im Asylantenheim zog er zu einer Familie nach Junglinster. „Auch mit Anfang 20 sind die meisten ja noch kleine Jungs“, sagt Marianne Donven, eine der Begründerinnen der Initiative. „Sie sehnen sich nach Ruhe, Geborgenheit, einem Familienersatz“.
Khadem bekam sein eigenes Zimmer, aß, wenn ihm danach war, mit Tania, Thierry und ihren zwei Kindern zu Abend, lernte Luxemburgisch und Französisch. Mit ihnen feierte er den Tag, an dem sein Antrag bewilligt wurde. Und sie waren es auch, die ihm dabei halfen, die Türen zum Luxemburger Bildungssystem aufzustoßen.
Interkulturelle Herausforderungen
Thierry erinnert sich noch gut an das mulmige Gefühl, das er vor dem ersten Treffen mit Khadem hatte. „Man hört ja so einiges in den Medien“, sagt er. Von interkulturellen Herausforderungen, unterschiedlichen Gewohnheiten, gegenseitigem Unverständnis. Trotz guten Willens auf beiden Seiten. Hinzu kam, dass die Luxemburger Behörden ihnen das Leben schwer machten. „Wir hatten einen Zirkus mit dem OLAI“, erzählt seine Frau Tania. „Sie wollten uns tatsächlich davon abhalten, die Geflüchteten im Heim zu besuchen. Dies sei den Organisationen vorbehalten.“
Davon ließen Thierry und Tania sich aber nicht abschrecken. Khadem war ihnen sofort sympathisch, seine gute Kinderstube war ihm anzumerken. Er beeindruckte sie durch sein fließendes Englisch, seine Höflichkeit und seinen Ehrgeiz. Als Thierry ihm dann nach mehrwöchigen gemeinsamen Aktivitäten anbot, zu ihnen zu ziehen, war es Khadem, der zögerte. „Warum helfen sie mir? Warum soll ich das Angebot annehmen“, habe er sich gefragt. Heute ist er nicht nur dankbar für die eineinhalb Jahre gemeinsam, sondern benutzt das Wort Familie, wenn er von Thierry und seiner Frau Tania spricht.
Tania beginnt ihre Sätze gerne mit den Worten: „Ich bin ja nicht seine Mutter“. Ihr ist anzumerken, wie wichtig es ihr ist, nicht übergriffig zu wirken. Zu helfen, ohne sich aufzudrängen, Entscheidungen zu akzeptieren, obwohl es ihrer Meinung nach die falschen sind, das sei nicht immer einfach, erzählt die Luxemburgerin. „Letztlich muss er seinen eigenen Weg gehen“, sagt sie.
Integrationsklassen als Sprungbrett
Sicherlich hätte sie es gerne gesehen, wenn er seine Ausbildung zum Krankenpfleger am technischen Gymnasium abgeschlossen hätte. Es in einem völlig fremden Land bis dahin geschafft zu haben, war doch schon ein Erfolg. Und er hätte zumindest in dem Bereich arbeiten können, in dem er sich so wohl fühlt. Andererseits: Soll er sich zurückstufen lassen? Mit weniger zufrieden geben, nur weil er aus Afghanistan kommt? „Ich habe ihn immer dafür bewundert, dass er an seinem Traum, Medizin zu studieren, festhält“, sagt Thierry, „auch wenn sein Traum schwer zu verwirklichen ist“.
„Wir versuchen, differenziert auf jeden Schüler und jede Schülerin einzugehen und je nach individuellem Projekt einen Plan zu finden“, erklärt Jos Bertemes, Direktor der „Ecole Nationale pour Adultes“, die auch Khadem eineinhalb Jahre besuchte. Die Schule, die bis August 2018 noch den Namen „Ecole de la deuxième chance“ trug, ermöglicht es vor allem Jugendlichen und jungen Erwachsenen, Diplome zu erwerben, die ihnen den Zugang zum Arbeitsmarkt, zu einer Berufsausbildung oder zu Universitätsstudien vereinfachen sollen. Besonders die Integrationsklassen richten sich an junge Einwanderer, da ihr Fokus auf dem Erwerb der französischen und der luxemburgischen Sprache liegt.
Khadem wurde anschließend am „Lycée Technique pour Professions de Santé“ aufgenommen. Er machte mehrere Praktika, in den Krankenhäusern in Kirchberg und Esch/Alzette sowie bei einem Zahnarzt. Als ihm dann seine allgemeine Hochschulreife aus Afghanistan vom Ministerium anerkannt wurde, brach er die Ausbildung zum Krankenpfleger ab. „Es war nicht das Richtige für mich“, sagt Khadem. „Vielleicht war er dem Druck nicht ganz gewachsen“, sagt Tania.
Teil einer Erfolgsgeschichte
Heute steht Khadem im Eingangsbereich des Restaurants „Chiche!“ in Limpertsberg. Er sieht seriös aus. Schwarzes, perfekt gebügeltes Hemd, gepflegter Haarschnitt, etwas Gel, aber nicht zu viel. Kunstvoll rasierter Bart. Um den Hals eine silberne Kette, ein Andenken an seine Mutter.
„Es tut mir leid, dass er hier im Restaurant steht, anstatt Medizin zu studieren“, sagt Marianne Donven, eine der Teilhaberinnen der „Chiche!“ sarl. Sie kennt Khadem schon lange, seit Anfang 2018 arbeitet er im Restaurant. Was als kleines Pilotprojekt auf wenigen Quadratmetern in Hollerich begann, ist heute nicht nur das Vorzeigeprojekt für Inklusion von Geflüchteten schlechthin, sondern auch ein sich rasant vergrößerndes Business. 43 Angestellte, überwiegend Geflüchtete, verpflegen etwa 2.000 Kunden pro Woche in zwei, bald drei Restaurants in Luxemburg, Esch und ab Januar auch in Leudelingen. Durch die Pandemie wurde der Erfolg zwar gebremst, aber nicht aufgehalten.
Wenn ich nicht Arzt werde, dann bin ich auch nicht mehr Khadem.“Khadem Hussain Karimyar
Khadem steigt mit auf. Vor einem Monat haben die Geschäftsführer ihm die Verantwortung für den gesamten Saal in Limpertsberg übertragen, für den Empfang, den Service und die Kasse. Mit einem freundlich zurückhaltenden Lächeln begrüßt er die Gäste, gibt jedem Einzelnen das Gefühl, besonders willkommen zu sein. Die französischen Höflichkeitsfloskeln beherrscht er aus dem Effeff, kein Wort klingt gekünstelt, so als hätte er nie etwas anderes gemacht.
Doch wenn es nach Khadem geht, wird er irgendwann das schwarze Hemd gegen den weißen Kittel eintauschen. All das hier ist nur vorübergehend. „Wenn ich nicht Arzt werde, dann bin ich auch nicht mehr Khadem.“
Hohe sprachliche Hürden
Bis letztes Semester konnte man an der Universität Luxemburg nur das erste Jahr Medizin studieren. Danach wurden die Studierenden an Universitäten im Ausland vermittelt, um dort ihr Studium abzuschließen und gegebenenfalls eine Spezialisierung zu absolvieren. Seit diesem Herbst gibt es nun das Angebot, einen Bachelor-Abschluss in Medizin an der Uni Luxemburg zu erreichen. Rund 25 Studenten haben vor wenigen Tagen begonnen, die Kurse zu besuchen. Khadem ist nicht dabei.
Seine Aufnahme zum Medizinstudium an der Universität Luxemburg scheiterte an den hohen Sprachanforderungen. Während er in Englisch und in Französisch mittlerweile das Niveau erreicht hat, fehlen ihm weiterhin grundlegende Kenntnisse der deutschen Sprache. „Warum muss ein guter Arzt Deutsch können?“ fragt er und verweist darauf, dass die Kurse ohnehin überwiegend auf Französisch und Englisch abgehalten würden. „Die Universität will mir keine Chance geben.“
Sowohl ein in Luxemburg anerkanntes Abitur im Bereich der Naturwissenschaften als auch hervorragende Sprachkenntnisse in Deutsch, Französisch und Englisch sind verpflichtend, um für das Medizinstudium in Luxemburg überhaupt in Frage zu kommen. Diese hohen Voraussetzungen führten dazu, „dass sehr wenige Studenten aus anderen europäischen Staaten oder aus Nicht-EU-Staaten in diesem Studiengang angenommen werden“, heißt es hierzu aus dem Hochschulministerium.
Traum noch nicht aufgegeben
Ende des Jahres wird Khadem voraussichtlich die luxemburgische Staatsbürgerschaft erhalten. Für den Test haben seine Sprachkenntnisse locker gereicht. Dann ist er Luxemburger und kann sich theoretisch an Universitäten in ganz Europa einschreiben. Und er kann eine Studienbeihilfe vom Luxemburger Staat beantragen. Für ein Medizinstudium würde er seine mühsam aufgebauten Zelte in Luxemburg abbrechen. In Maastricht, Brüssel oder Straßburg noch einmal von vorne beginnen. Ob er dann, nach einem Studium in einem anderen Land, dauerhaft nach Luxemburg zurückkommen wird, steht in den Sternen.
Khadem war schon lange nicht mehr in Junglinster. Auch der letzte Anruf liegt Monate zurück. Zu den beiden Kindern der Familie hat er trotz gleichen Alters und vieler gemeinsamer Erinnerungen keinen Kontakt mehr. Er legt die Stirn in Falten, ein bisschen schlechtes Gewissen ist ihm durchaus anzumerken. Das brauche er doch nicht zu haben, meint hingegen Thierry. Wege kreuzen sich und gehen dann auch wieder auseinander. So sei das nun einmal im Leben.