Empört euch – richtig

EDITORIAL  tageblatt 30. August 201, Lucien Montebrusco

Nicht Migranten sind das Problem

Schaut sich ein Trump-Wähler oder eine Trump-Wählerin aus dem Hinterland der USA eine Doku über ein Roma-Dorf in Rumänien an. Was da zu sehen ist, beeindruckt: verwahrloste, barfuß durch verschlammte Straßen laufende Kinder. Rumänien = Europa so also leben die armen Europäer, sagt sich der Mann/die Frau. Ähnlich realitätsfern ist das Bild, das so mancher Europäer vor Augen hat, hört er von Afrika. Dass die dortigen Habenichtse alle ins reiche Europa, vornehmlich dessen Westteil, wollen, klingt in seinen Ohren nachvollziehbar.
Derlei pauschalisierende Aussagen über das bitterarme „Afrika“ sind natürlich falsch. Etliche Länder des Kontinents wie etwa Äthiopien, die Elfenbeinküste, Ruanda, Senegal, Ghana, Benin und Tansania weisen erhebliche Wachstumsraten auf, auch wenn dies noch nichts über die Verteilung des Reichtums aussagt. Falsch ist folglich die Vorstellung, all jene, die an Europas Tür klopfen, täten dies ausschließlich wegen seiner glitzernden Schaufenster. Genauso wenig stimmt auch die Behauptung, jeder Migrant laufe mit dem Klappmesser in der Tasche durch Europas Straßen. Wobei freilich niemand garantieren kann, dass sich nur „Gutmenschen“ auf den Weg nach Europa machen.
Doch diese verkürzte Vorstellung des gewaltbereiten, allein auf unseren Wohlstand erpichten Migranten vermitteln politische Einpeitscher aus der rechten Ecke wie vor wenigen Tagen noch im sächsischen Chemnitz. Sie nutzen dabei den berechtigten Unmut von Teilen der Bevölkerung über den Mangel an bezahlbarem Wohnraum, über unzureichende öffentliche Einrichtungen, heruntergekommene Schulen sowie vernachlässigte Straßen und Brücken. Indem die Rädelsführer verbal auf Migranten einprügeln, dabei die praktische Seite rechtsextremen Handlangern überlassen, lenken sie von den eigentlichen Ursachen der Misere ab: die ungleiche Verteilung des erschaffenen Reichtums. Die reichsten zehn Prozent der Haushalte in unserem Nachbarland besaßen 2014 fast 64 Prozent des Vermögens Deutschlands, so eine Anfang des Jahres publizierte Studie des Deutschen Instituts für Wirtschaftsforschung (DIW).
Vom aktuellen EU-weiten Rechtsdrall bis weit in die Führungsspitzen von Regierungsparteien bleibt Luxemburg vorerst verschont. Zwar hat auch dieses Land akute Probleme auf dem Wohnungsmarkt, die längst nicht nur einkommensschwache Haushalte betreffen und die nicht nach der Staatsangehörigkeit der Betroffenen fragen. Doch Sozialtransfers bremsen das Abrutschen vieler Haushalte in die Armut ab. Ohne diese Umverteilung (Renten nicht in begriffen) würde das Armutsrisiko laut Statec statt 16,5 Prozent 27,1 Prozent der Haushalte betreffen.
Luxemburgs Großzügigkeit bei der Aufnahme von Menschen in Not geht nicht auf Kosten sozial Schwacher. Was für Luxemburg zählt, dürfte generell auch für weite Teile der EU gelten. Würde sich die Union vollends abschotten, es ginge keinem der hausgemachten Ärmsten besser.
Die Empörung über soziale Defizite und andere Schwachstellen der europäischen Gesellschaft muss sich gegen die herrschenden, Ungerechtigkeiten produzierenden Verhältnisse richten, nicht gegen einzelne Menschengruppen.