Flucht nach Norden

LEITARTIKEL  Luxemburger Wort 1. September  2017

Flucht nach Norden

MARC SCHLAMMES

„EU-Flüchtlingspolitik nach dem Motto ,aus den Augen, aus dem Sinn‘.“

Und wieder ein Stück weiter weg von den Toren der Festung: Nun sollen der Tschad und der Niger der Europäischen Union bei der Lösung der Flüchtlingsfrage helfen. So wollen es Merkel, Macron&Co. Die EU setzt ihre Verdrängungspolitik gemäß der Devise „Aus den Augen, aus dem Sinn“ fort und nimmt dabei fragwürdig-zweifelhafte Partnerschaften in Kauf. Erst die Türkei mit ihrem diktaturähnlichen Regime, dann Libyen, ein „failed state“, und nun dessen südliche Nachbarn Niger und Tschad, laut „Index der menschlichen Entwicklung“ auf dem dritt- bzw. vorletzten Platz unter 188 Staaten eingestuft.

Eines wird die Europäische Union mit dieser Taktik nicht erreichen: die Flüchtlingsfrage nachhaltig lösen und dafür sorgen, dass die Menschenströme versiegen. Was passiert beispielsweise mit jenen Menschen, die im Tschad bzw. Niger abgewiesen werden? Gestrandet im afrikanischen Niemandsland, werden sie schnellstmöglich einen neuen Anlauf nehmen, um doch noch ins (vermeintlich) gelobte Land zu gelangen. Die Rückkehr in ihre Heimat, eine Heimat der Hoffnungslosigkeit, ist keine Option.

Zumindest bestätigt die EU mit ihrem jüngsten Vorstoß ein Klischee: Flüchtlinge in Afrika – Ja. Flüchtlinge in Europa – Nein. Denn, während der eh schon arg gebeutelte Schwarze Kontinent die Hauptlast trägt, muss Europa laut UN-Flüchtlingshilfswerk gerade mal sechs Prozent des weltweiten Flüchtlingsaufkommens beherbergen. Und tut sich dennoch unendlich schwer mit dieser Aufgabe. Wie schwer, zeigt sich auch in Luxemburg; in den zurückliegenden zwei Jahren ist es hierzulande nicht gelungen, ein halbes Dutzend Containerdörfer einzurichten.

Nun wiederholt die deutsche Kanzlerin seit geraumer Zeit gebetsmühlenartig, die Politik müsse sich der Fluchtursachen annehmen. Gewiss, damit trifft sie den Nagel auf den Kopf. Schade nur, dass ihre Worte bis dato folgen- bzw. tatenlos geblieben sind. Überlässt man durch die K-Plagen – Kriege, Krankheiten, Korruption, Klimawandel – geschundene Menschen sich selbst, nimmt man in Kauf, dass diese Menschen ihr Schicksal irgendwann selbst in die Hand nehmen und den einzigen Ausweg aus ihrem perspektivlosen Dasein wählen: die Flucht nach Norden. Nach Europa.

Wer nun nach den Quellen der Flüchtlingsströme sucht, der sollte sich geografisch nicht allein auf die omnipräsenten Sorgenkinder Afghanistan und Syrien beschränken. Andernorts ist das Leben nicht viel lebenswerter – ob in der Zentralafrikanischen Republik, im Tschad, in Somalia, in Eritrea, im Niger, in der Demokratischen Republik Kongo …

Will die Europäische Union nun wirklich die K-Plagen behandeln, so dass die Fluchtbewegungen aufhören, ruht die heftigste Herausforderung darin, ein hohes Maß an Kohärenz zwischen unterschiedlichen Politikfeldern zu erzielen. Was Kohärenzdefizite bewirken, offenbaren zwei Beispiele. Afrika dient dem europäischen (ebenso wie dem amerikanischen) Agrarbusiness als Absatzmarkt für dessen subventionierte Überproduktion – mit als Konsequenz, dass auf dem Schwarzen Kontinent eine landwirtschaftliche und ländliche Entwicklung illusorisch bleibt.

Weitaus schwerer wiegt, dass auch die Rüstungsindustrie am Absatzmarkt Afrika verdient, so dass Konflikte immer wieder befeuert werden. Die Gleichung ist einfach: ohne Waffen keine Warlords. Jenseits von Afrika lässt sich mit dieser Gleichung indes kein Geld verdienen. Wenn heute also der Fluss dieser blutgetränkten Geldströme gen Norden geduldet wird, muss als Folge davon der Flüchtlingsstrom in Kauf genommen werden.