Integration, verpasste Chancen und glückliche Zufälle
40 Jahre ASTI / Serge Kollwelter über Integration, verpasste Chancen und glückliche Zufälle
Geplant hat er es so nicht. „Gute Zufälle“ seien es gewesen, sagt Serge Kollwelter (73), die ihn dahin gebracht haben, wo er ist. Vor 40 Jahren gründet der Grundschullehrer mit anderen die „Association de soutien aux travailleurs immigrés“ (ASTI). Die ersten 30 Jahre leitet er den Sozialverein als Präsident. Ein Gespräch über Integration und verpasste Chancen.
Tageblatt: Was verstehen Sie unter Integration?
Serge Kollwelter: Ein gutes, ausgewogenes und demokratisches Zusammenleben.
Seit 40 Jahren kämpft die ASTI für eine offene Gesellschaft in Luxemburg. Wagen Sie eine Bilanz?
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„Aufeinander zugehen“
Als ich mich zum ersten Mal mit dem Zusammenleben hier im Land befasst habe, gab es 330.000 Einwohner und 60.000 Ausländer. Das zeigt die Dynamik, die immer noch andauert. (Aktuell leben laut Statec 322.430 Luxemburger und rund 291.500 Ausländer hierzulande, Anm. d. Red.) Jährlich kommen 20.000 Ausländer hinzu. Es gibt noch viel zu tun.
Wo sehen Sie Handlungsbedarf?
Es gibt zwei Bereiche und das ist keine Überraschung: Schule und Wohnungsmarkt. Beides ist ein fortgeschriebener Skandal in einem Land mit solchen Bevölkerungszuwächsen. Und zwar von der gesamten politischen Klasse. Ich glaube, es ist den jeweiligen Regierenden einfach egal, denn von „Verschlafen“ kann nicht die Rede sein.
Die ASTI agiert unter dem Motto „vivre, travailler et décider ensemble“. Das hat einen Haken. Ausländer dürfen nicht mitentscheiden …
Das ist ja auch eine Zielvorstellung. Ich halte es da mit der Bostoner Tea Party: „No taxation without representation.“ Es ist einfach ungesund, wenn hier in der Stadt Luxemburg zwei Drittel der Einwohner kein Mitspracherecht haben.
Das ist eine De-facto-Ausgrenzung …
Ja. Mir machen aber die mittel- und langfristigen Konsequenzen mehr Sorgen. Wir brauchen diese Kinder und ihre Kompetenzen für unsere Gesellschaft. Und wir dürfen das nicht der Zeit überlassen. Erste Generation, zweite Generation …, es gibt dauernd neue erste Generationen.
Bremst nicht die Kultur des „Jeder kennt einen, der einen kennt“?
Solange sich die politischen Parteien nicht öffnen und Menschen mit Migrationshintergrund hereinlassen, wird nichts passieren. In Luxemburg bremst zusätzlich häufig die Sprache.
Es gibt eine Ausnahme: den Finanzsektor. Auf Kirchberg spielen die luxemburgische Nationalität und Sprache keine Rolle, obwohl es eine Schlüsselindustrie ist …
Das ist eine eigene Welt, die unter sich bleibt. Eine Parallelgesellschaft mit eigenen Schulen. Ein Banker, der hier fünf Jahre bleibt, muss nicht unbedingt Luxemburgisch lernen. Bedenklich finde ich aber, dass die Kinder der EU-Mitarbeiter nicht einmal ein Angebot bekommen, Luxemburgisch zu lernen.
Das sind überwiegend gut ausgebildete Europäer. Es gibt ja aber auch andere Immigranten …
PISA hat es doch gerade gezeigt: Wir sind das Land, das sich am wenigsten in der Schule einfallen lässt, um soziale Unterschiede auszugleichen.
Verpasste Chancen?
Es wird die Gelegenheit verpasst, dass sich die Kinder von Einheimischen und Ausländern finden können. Und es geht weiter mit den Sprachen. Wie soll eine portugiesische Mutter Hausaufgaben auf Deutsch betreuen, wenn sie die Sprache nicht kann? Ganz davon abgesehen, dass junge Portugiesen heute Englisch bevorzugen. Wir tun uns mit dieser rigiden Sprachenpolitik in der Schule keinen Gefallen.
Warum ändert sich nichts?
Jetzt mache ich mich bei meinen ehemaligen Kollegen unbeliebt. Warum sollen die hiesigen Lehrer etwas am Schulsystem ändern? Ihnen geht es doch gut dabei.
Der letzten ASTI-Umfrage entnehme ich, dass Ausländer, wenn sie die luxemburgische Staatsangehörigkeit annehmen, mitbestimmen dürfen. Mitsprache also nur über Nationalität?
Das ist das Konzept des 20. Jahrhunderts. Wir leben aber im 21.
Ist das nicht in einem vielsprachigen Land ziemlich konservativ?
„Conservare“ heißt bewahren und wir sind ja nicht ganz arm. Also haben wir viel zu bewahren. Das gilt auch für Dinge, die uns schon längst entglitten sind. Die Gesellschaft der Luxemburger unter sich gibt es schon lange nicht mehr.
Warum ist das Referendum dann so ausgefallen?
Die Art und Weise, wie das angegangen wurde, ist verantwortungslos. Als das Baby geboren war, sind die Eltern weggezogen und haben das Neugeborene sich selbst überlassen. So ein Referendum muss man doch vorbereiten. Wo waren denn die Herrschaften?
Kritik an der regierenden Koalition?
Wir sind voll auf der liberalen Individualisierungswelle. Jeder für sich. In den Vierteln kennen die allermeisten ihre Nachbarn nicht mehr. Kirchberg ist ein gutes Beispiel. Auf dem Dorf ist es dasselbe. Es genügt nicht zu sagen, „komm in die Feuerwehr“. Da geht die Ausgrenzung weiter. Der Kommandant gibt die Befehle nicht in drei Sprachen. Auf Gemeindeebene ist Luxemburgisch die letzte Hürde zur Integration.
Außer in der IT-Branche. Dort wird Englisch gesprochen …
Ja, klar. Wenn es keinen anderen gibt, nehmen wir einen Engländer oder Amerikaner, damit der Laden läuft. Da sind wir ganz pragmatisch.
Aktuell fordert die ASTI eine Novellierung des Integrationsgesetzes von 2008. Warum?
Seitdem hat sich viel verändert. Die Integrationskommission in vielen Gemeinden ist ein Papiertiger. Der „congé linguistique“ ist unzureichend. 110 Stunden reichen nicht, um Luxemburgisch zu lernen. Es gibt noch andere Beispiele.
Kommen wir zu den Grenzgängern. Gehen sie unter?
Wir dürfen sie nicht vergessen. Sie lassen Spuren hier im Land. Von „oben“ werden dauernd Signale ausgesendet, „wir müssen sie kurz halten“. Die Beihilfen zum Studieren sind ein gutes Beispiel. Oder der Steuerausgleich, wie ihn der Bürgermeister von Metz will. Dem verweigert sich die Regierung rigoros. Dann sprechen wir nicht von der Großregion, sondern von einem Reservat.
Was würden Sie ändern?
Wenn wir uns trauen, das Wort „Großregion“ in den Mund zu nehmen, dann müsste jedes luxemburgische Lyzeum Partner in der Großregion haben. Und nicht, damit sich die Direktoren treffen, sondern die Schüler. Sich kennenzulernen, ist die Voraussetzung, damit man sich schätzen lernt.
Und die Sprache anwendet …
Genau. Ich habe mal geschätzt , dass jeder luxemburgische Schüler bis zum Abitur rund 1.500 Stunden Deutsch und noch mal so viel in Französisch gehabt hat. Sprachlich sind sie jedoch bloß auf dem Stand von Schuldeutsch oder Schulfranzösisch.
Hat Luxemburg überhaupt ein Interesse an der Großregion?
Die menschliche Ebene kommt meiner Meinung nach zu kurz. Das wurde schon bei der Kulturhauptstadt 2007 falsch gemacht. Alle Projekte hätten einen luxemburgischen Partner und einen aus der Großregion haben müssen als Voraussetzung zur Finanzierung. Stattdessen haben viele „ihre“ Projekte gemacht. Und fertig. Da ist eine Gelegenheit verpasst worden.
Zum Schluss: Wie sieht Luxemburg in zehn Jahren aus?
Ich glaube, wenn es uns wirtschaftlich schlechter gehen sollte, zeigt sich, wie es um den Zusammenhalt in der Gesellschaft bestellt ist. Die luxemburgischen Wähler wissen, dass ohne Ausländer in diesem Land nichts läuft. Das weiß sogar die ADR. Auf das jetzige lautlose und ruhige Nebeneinander haben wir kein Ewigkeitszertifikat.