Interview: Rückblick auf die Gemeindewahlen
Herr Kollwelter, warum haben so wenige Ausländer gewählt?
2023 war ein schlechtes Jahr für Anhänger des Ausländer-Wahlrechts. Die Beteiligung bei den Gemeindewahlen war mehr als ernüchternd. Woran liegt das?
Serge Kollwelter ist nicht enttäuscht. Das sagt der 78-Jährige ohne Reue in seiner Stimme. Klar: Die Wahlbeteiligung von Nicht-Luxemburgern war bei den Gemeindewahlen 2023 wieder nicht das, was man sich erhofft hatte. Und das, ob wohl sie eigentlich im Vergleich zu 2017 sogar gestiegen ist. „Doch irgendwie hat der Wille gefehlt, noch weiterzugehen als bisher.“
Bemühungen seitens der Gemeinden und der Regierung habe es zahlreiche gegeben. Das will der Mann mit dem weißen Vollbart, der die Ausländerorganisation ASTI 1979 mitbegründet hat, nicht abstreiten. „Das wäre unfair.“ Es hat zum Beispiel die Kampagne des Familienministeriums „Ich kann wählen“ gegeben. Die sollte ausländische Gemeinde-Einwohner über ihr Recht auf Teilnahme an den Kommunalwahlen sensibilisieren.
Doch die Zahlen zeichnen weiterhin eine eher zurückhaltende Euphorie rund um das Ausländerwahlrecht bei den Gemeindewahlen ab, wie die neueste CEFIS-Studie im Januar zeigte: Der Anteil der zur Wahl eingetragenen Nicht-Luxemburger lag diesmal bei 19,8 Prozent. Das entspricht rund 50.000 Wählern. Bei der Wahl 2017 waren es weniger – rund 34.600. Mehr Ausländer als zuvor haben also an den Gemeindewahlen teilgenommen. Rechnet man jedoch den Bevölkerungszuwachs hinzu und das Ende der Residenzklausel, so habe man es eher mit einer Nullnummer zu tun, meint Kollwelter.
Dazu kommt noch: Ganze 202.380 Wahlberechtigte haben sich nicht auf die Wahllisten eintragen lassen. Insgesamt sind zudem von Luxemburgern und Nicht-Luxemburgern 15 Prozent nicht zur Wahl erschienen. „Das sind viel zu viele Menschen, die Zuschauer der Demokratie sind“, bemängelt Kollwelter gegenüber dem „Luxemburger Wort“.
Wahlerklärungen statt echte politische Diskussionen
Vom „Wort“ dazu eingeladen, seine Kritik genauer dazulegen, sagt Kollwelter, eine „klare Strategie“ vermisst zu haben, um Ausländer zur Wahl zu bewegen. Die Frage nach Sensibilisierungskampagnen greife hierbei zu kurz. „Wählen ist eine Entscheidung. Man muss also wissen, welche Entscheidungen es bei einer solchen Wahl zu treffen gibt.“
Die Sensibilisierung von ausländischen Wählern hätte sich aber rein darauf begrenzt, „wie ich mich einschreibe, wie ich wähle und wie unser System funktioniert“.
Es geht aber nicht darum, Personen zu wählen, sondern Prioritäten.
Viele Bürger würden nicht einmal genau wissen, wofür die Gemeinden genau zuständig sind. Kollwelter ist überzeugt: Es braucht klare Listen, die Bürgern einen Überblick bieten, was Gemeinden machen und inwiefern sie diese Aufgaben bisher erfüllt haben. Das spielt so manchen Politikern allerdings nicht in die Karten. So würden deren Verfehlungen transparenter – weswegen es diese Listen nicht gibt.
„Es geht aber nicht darum, Personen zu wählen, sondern Prioritäten“, sagt Kollwelter klar. Der Wähler brauche mehr Orientierung. „Sie müssen einsehen, welchen Einfluss die Gemeinden auf ihr alltägliches Leben haben.“
Bei der Vermittlung dessen, was für die Gemeinde-Einwohner auf dem Spiel steht, hätte vor allem ein Akteur versagt: die Parteien, die „großen Abwesenden“ der Gemeindewahlen, wie sie der ehemalige ASTI-Präsident nennt. Die hätten zu wenig getan, um ihr politisches Angebot an den Mann und an die Frau zu bringen.
Die politischen Akteure hätten sich mit ihren Inhalten zu selten an ausländische Mitbürger gewendet. Viele Plakate und Flyer seien rein auf Luxemburgisch gewesen. „Ob alle die Botschaften der Wahlplakate verstanden haben, wage ich deshalb zu bezweifeln.“
Junge Wähler waren unterrepräsentiert
Wie schwer es allerdings sein kann, Aufklärungsarbeit in Hinsicht auf Gemeindewahlen zu machen, das weiß Kollwelter nur zu gut.
Er hat selber an Initiativen teilgenommen im Zuge der Gemeindewahlen. Danach gefragt, an wie vielen genau er sich beteiligt hat, antwortet er mit einem verschmitzten Lächeln: „Viele“. Er sei unter anderem mit einem Bus durch das Land getourt und hätte in Gymnasien Jugendlichen die Geschichte des Wahlrechts und die Zuständigkeiten von Gemeinden erklärt. Letzteres sei besonders schwer gewesen, erinnert er sich.
„In den Gymnasien haben sie Klassen mit Schülern aus 15 verschiedenen Gemeinden. Da ist es schwer über das Wesentliche hinaus zugehen, weil die Auflistung der Gemeinde-Kompetenzen nicht die Gleiche ist für jede Gemeinde.“
Manche Schüler würden in dem einen Ort in die Schule gehen, in einer anderen Gemeinde leben, aber wiederum in einer anderen ihren Lieblings-Skatepark aufsuchen. „So ist es schwer, für Jugendliche einen Bezug zu ihrer Gemeinde aufzubauen.“
Auch die CEFIS-Studie zeigt die Notwendigkeit von eigenen Kampagnen, die auf junge Erwachsene abzielen. Denn von den ausländischen Wählern waren bei der Gemeindewahl nur fünf Prozent zwischen 18 und 24 Jahren alt.
Politik muss auch zwischen den Wahlen gemacht werden
Hinter der niedrigen Wahlbeteiligung von Nicht-Luxemburgern verstecke sich ebenso ein stilles Unbehagen: Es steht schlecht um das Zusammenleben. Wer sich im Alltag politisch nicht mitgenommen und miteinbezogen fühlt, der wird auch nicht wählen. Das gilt genauso für Luxemburger als für Nicht-Luxemburger.
Zwischen den Wahljahren würde zu wenig passieren, meint Kollwelter, um die ausländische Bevölkerung zu sensibilisieren. Er plädiert dafür, Einwohner erstmal bei ihrer Einschreibung in der Gemeinde direkt zu fragen, ob sie auf den Wählerlisten eingetragen werden wollen. Eine automatische Einschreibung sei ebenso möglich.
Politik ist mehr als nur Parteipolitik. Es ist wertvoller als das.
Doch damit wäre längst nicht alles getan. Die Menschen müssten wieder lernen, was Politik ausmacht und warum es wichtig ist, dass sie sich als Bürger wieder einbringen. „Bürgerbeteiligung zwischen den Wahlen muss offener werden“, so Kollwelter.
Dafür müsse das politische Leben zugänglicher werden. Es brauchte mehrsprachige Internetseiten, Gemeindebücher, Berichte oder sogar eine Live-Schalte aus dem Gemeinderat. „Es braucht einfach mehr.“
Vor allem aber fehlt es an politischen Räumen, in denen sich Nicht-Luxemburger zu Wort melden können. Das waren zuvor die Commissions consultatives communales de l‘intégration, die die Gemeinden in Sachen Zusammenleben beraten sollten.
Nicht-Luxemburgern fehlt es an politischen Plattformen
Diese Kommissionen seien aber mit der Reform des Integrationsgesetzes von 2008 hin zum Gesetz über das interkulturelle Zusammenleben teils geschwächt worden. Zwar sei es zu früh, die neuen beratenden Kommissionen über das Zusammenleben zu bewerten – doch auf dem Papier sind die Einschnitte tiefer als gedacht.
Mussten die Kommissionen zuvor regelmäßig dem Ministerium Berichte über ihre Arbeit schicken, müssen es die neuen Kommissionen nicht. „Niemand hat also einen Überblick darüber, ob die Kommissionen wirklich Menschen am Tagesgeschehen in der Gemeinde miteinbeziehen.“
Zudem sind die Kommissionen nun auch offen für Luxemburger. Das war die Grundidee hinter dem neuen Gesetz: Luxemburger und Nicht-Luxemburger arbeiten gemeinsam am Zusammenleben. Das habe auch etwas Positives an sich, sagt Kollwelter. Nur besteht aber die Gefahr, dass Anliegen von Nicht-Luxemburgern weniger zum Tragen kommen.
„Wenn Sprachkurse für Ukrainer in einer anderen Gemeinde organisiert werden und mehrere Familien sich zusätzliche Busse wünschen, um dort hinzufahren, ist es ein echtes Anliegen. Auch, wenn der Luxemburger einfach mit fünf verschiedenen Autos hinfahren würde und es nicht so sieht“, gibt Kollwelter als Beispiel.
Immer wieder sei es in der Vergangenheit zudem passiert, dass Gemeinderäte die Arbeit dieser Kommissionen entweder ignorierten oder sogar bekämpften. „Ich sehe nicht den Sinn solcher Kommissionen ein, eine Opposition im Gemeinderat genügt mir“, soll sich ein Bürgermeister in der Vergangenheit gegenüber Kollwelter geäußert haben, erinnert er sich zurück.
Zusammenleben sei nun einmal politisch – und es gilt, auch Nicht-Luxemburgern das klar zu machen. „Aber Politik ist mehr als nur Parteipolitik. Es ist wertvoller als das.“
Wenn Menschen sich politisch interessieren, dann verstehen sie auch, dass wählen gehen keine reine Formalität ist.
Wenn der politische Diskurs in solchen Kommissionen nicht gefördert und von den Gemeinden unterstützt werde, dann sei das „eine verpasste Chance“, findet Kollwelter. Dafür müssten die Gremien erstmal transparenter werden.
Es sei wichtiger denn je, denn „wir sind in einer Welt der Entpolitisierung“, sagt der ehemalige ASTI-Präsident. Die politischen Parteien würden sich in der Mitte „auf die Füße treten“ und deren Positionen „kaum noch voneinander unterscheiden“. Er plädiere für mehr politische Bildung, auch an Schulen.
„Wenn Menschen sich politisch interessieren, dann verstehen sie auch, dass wählen gehen keine reine Formalität ist.“