Luxemburg will Familie Siwe zur freiwilligen Ausreise zwingen
Seit sechs Jahren sind Kodjo Siwe und seine Lebensgefährtin auf der Flucht. Eine Heimat wird das Paar und ihre vierjährige Tochter wohl auch in Luxemburg nicht finden.
Donnerstagmittag, kurz nach 12 Uhr, es ist der 17. Oktober 2024. Vaneck Bowel Kodjo Siwe steht vor seiner Haustür. Sein Blick schweift von links nach rechts, die Straße fest im Blick. Bei jedem Auto, das um die Ecke biegt, fragt er sich, ob es ein Polizeiwagen ist. Der 27-Jährige, seine Partnerin Sonia und seine vierjährige Tochter sollen um 13 Uhr die Aufnahmestruktur des Roten Kreuzes in Wasserbillig verlassen. Notfalls mit Hilfe der Polizei.
Am frühen Morgen hatte die Familie einen weiteren Termin beim Office National de l’Accueil (ONA). „Ich weiß nicht, wo wir hinsollen“, sagt der gebürtige Kameruner. Seit dem 16. März 2023 befindet sich die Familie ohne Aufenthaltsgenehmigung in Luxemburg.
Im Vorgarten der Flüchtlingsunterkunft erzählt Kodjo Siwe, wie seine Familie ihre Heimat hinter sich ließ. 2018 flieht Kodjo Siwe allein aus Kamerun. Er sei dort verfolgt worden, erzählt er. Über den Iran führt sein Weg mithilfe eines Schleusers in die Türkei. „Von dort aus ist es nicht mehr weit bis nach Griechenland“, sagt Kodjo Siwe. Mit dem Boot ist es nur eine Stunde, das Risiko nimmt er in Kauf. Am 30. Mai 2019, erzählt Kodjo, habe er Griechenland erreicht. Am folgenden Tag ist er auf Lesbos im Flüchtlingslager Moria. Seine Lebensgefährtin Sonia folgt ihm später.
Mit dem Schleuser nach Europa
Nach eigenen Angaben erhält das Paar dort eine „Blue Card“, einen Aufenthaltstitel für hochqualifizierte Arbeitskräfte aus Drittstaaten. Damit können die beiden das Flüchtlingslager verlassen. „Wir kamen in Athen an und hatten nichts“, erinnert sich Kodjo. Sonia ist bereits schwanger. Das Paar findet Unterschlupf in einem Zimmer, das ehemalige Flüchtlinge an neue Flüchtlinge vermieten. Und das für haarsträubende Preise. Dabei sind diese Zimmer nichts anderes als Matratzenlager, in dem so viele Menschen wie möglich untergebracht werden.
Eine Hilfsorganisation kümmert sich um die Familie, bis das Kind zur Welt kommt. Kodjo arbeitet auf Plantagen. Erntet Oliven und Orangen. Bis sein Rücken streikt. Weil die persönliche Anhörung im Aufnahmeverfahren der jungen Familie erst für das Jahr 2023 angekündigt wird, beschließt die Familie, Griechenland zu verlassen. „Ich hatte dort keine Arbeit. Kein Leben.“ Die Ausreise sei schwierig, aber jeder kenne in Griechenland Schleuser. Diese würden jedoch die Hilflosigkeit und Verzweiflung der Flüchtlinge ausnutzen und hohe Preise für gefälschte Papiere verlangen.
Dennoch gelingt es der Familie, Papiere zu beschaffen. Sie fliegt, begleitet von einem Schleuser über Korfu nach Leipzig in Deutschland. Dort angekommen, nimmt der Schleuser den jungen Eltern die gefälschten Dokumente wieder ab. Die Familie reist mit dem Zug über Frankfurt am Main nach Trier und schließlich nach Luxemburg. Ein Bekannter, den sie auf der Flucht kennengelernt haben, lebt bereits dort. „Wir wussten nicht, wo wir sonst hinsollten.“
Familie Siwe ist kein Einzelfall
Am 22.07.2022 stellt die Familie einen Asylantrag bei der Direction de l’Immigration. „Uns wurde gesagt, unsere Geschichte sei nicht glaubwürdig, nicht überzeugend genug“, sagt Kodjo.
Der Antrag wird abgelehnt. Trotzdem versuchen die jungen Eltern, einen Arbeitgeber zu finden. Kodjo Siwe soll eine Ausbildung zum Bäcker in der Hotelfachschule in Diekirch machen. Ein Arbeitgeber für die Ausbildung springt jedoch ab. Sonia unterschreibt einen unbefristeten Arbeitsvertrag bei einer Reinigungsfirma. Ohne Aufenthaltsgenehmigung darf sie aber nicht mit der Arbeit anfangen.
Als sie in die Aufnahmeeinrichtung nach Wasserbillig ziehen, besucht ihre Tochter dort die Schule. Bis letzten Freitag. Als Kodjo die Vierjährige zum Unterricht bringen will, hält die Lehrerin ihm die Kleider und Schulutensilien des Mädchens hin. Die Frau teilt ihm mit, dass seine Tochter nicht mehr in Wasserbillig zur Schule gehen dürfe. Laut dem Bürgermeister der Gemeinde, Jérôme Laurent, sei die Familie auf Drängen des ONA aus dem Melderegister gestrichen worden. Dadurch habe das Mädchen kein Recht mehr, in Wasserbillig die Schule zu besuchen. Einen solchen Fall habe er in seiner achtjährigen Amtszeit bislang nicht erlebt.
Frank Wies, der Anwalt der Familie, sagt hingegen, die Situation sei kein Einzelfall. Seit dem Regierungswechsel würden sich solche Fälle häufen. Seit Monaten sei das ONA dabei, Menschen auf die Straße zu setzen. Erst kürzlich sei eine junge Mutter Anfang 20 mit ihrem sieben Monate alten Baby aus ihrer Notunterkunft ohne Alternative verwiesen worden. Dem pflichtet auch Marianne Donven vun „Oppent Haus“ bei. „So etwas hätte es unter Außenminister Jean Asselborn nicht gegeben.“ Wies und Donven teilen den Eindruck, dass die Zahlen der Asylanfragen in den vergangenen Jahren rückläufig seien. Konkrete Zahlen gebe es jedoch nicht.
Das dem ONA überstehende Familienministerium teilt auf LW-Nachfrage mit, dass es „vor dem Hintergrund stark ausgelasteter Kapazitäten und einer hohen Nachfrage durch neue Asylbewerber wichtig sei, Betten freizugeben, welche von Personen besetzt werden, die keinen Anspruch darauf haben und, wie in diesem Fall, eine andere Möglichkeit haben.“
Unfreiwillige freiwillige Rückkehr
Jene andere Möglichkeit wäre für die Familie Siwe eine freiwillige Rückkehr nach Kamerun. „Diese Stratégie de pourissement sehe ich immer öfter“, sagt Anwalt Wies. Menschen würden so in die Ecke gedrängt, dass ihnen am Ende nichts anderes übrig bleibe, als gegen ihren Willen einer freiwilligen Rückkehr zuzustimmen.
Das zuständige Ministerium für innere Angelegenheiten teilt auf Anfrage mit, dass die Familie eine freiwillige Rückkehr nach Kamerun bislang mehrfach abgelehnt habe. Wie es nun weitergehe, liege allein in der Hand der Familie. Ihr Anwalt bestätigt, dass ihnen lediglich zwei Möglichkeiten bleiben: Der freiwilligen Rückkehr zuzustimmen oder das Angebot der Wanteraktioun wahrzunehmen. Wohlwissend, dass diese erst Mitte November öffnen wird.
„Sie müssen das Land verlassen, können sich jedoch jederzeit bei der Direction de l’Immigration vorstellen, um ihre freiwillige Rückkehr zu organisieren“, ergänzt das Ministerium für innere Angelegenheiten. Sollten sie dies nicht tun, würden sie in Kauf nehmen, weiterhin illegal in Luxemburg zu bleiben.
„Wir geben die Hoffnung nicht auf. Wir werden weiterkämpfen“, sagt Kodjo. Und wenn nicht für sich selbst, dann für die, die nach ihnen kommen. Eher resigniert zeigt sich hingegen Frank Wies. Für die Familie sieht er in Luxemburg angesichts der Haltung der Regierung keine Zukunft.