Luxemburgs paradoxe Asylpolitik
Hürden der Integration
„Refugees welcome“: Vor allem aus Syrien und Afghanistan kamen seit 2015 verstärkt Schutzsuchende nach Luxemburg. Gesetzliche Barrieren, Wohnungsnot und ein restriktiver Arbeitsmarkt machen die Integration der Geflüchteten nicht leicht. Eine Zwischenbilanz.
Flüchtlingsboote, die von der griechischen Küstenwache gewaltsam zurück in türkisches Gewässer gedrängt werden. Schüsse auf Migranten an der Grenze zwischen Griechenland und der Türkei. Rechtswidrige „Push-Backs“ auf der Balkanroute. Und schließlich der Brand im Flüchtlingslager von Moria. Auch mehr als fünf Jahre nach der „Flüchtlingswelle“ im Sommer 2015 beschäftigt der Umgang mit Schutzsuchenden die EU-Staaten.
Luxemburg gilt international als Vertreter einer „humanistischen Asylpolitik“ – ein Image, das insbesondere von Außenminister Jean Asselborn (LSAP) auf EU-Ebene und in den Medien gepflegt wird. Ähnliche Grundsätze beansprucht allerdings auch die Europäische Kommission für sich. Der im September vorgestellte „New Pact on Migration and Asylum“ verspricht „einen menschlichen und menschenwürdigen Ansatz“ zu verfolgen. Menschenrechtsorganisationen kritisieren den Pakt jedoch als Dokument der politischen Scheinheiligkeit.
Zwischen Rhetorik und politischer Praxis
Der EU-Migrationspakt verdeutliche auch die Widersprüche der Luxemburger Asylpolitik, analysiert die „Association de Soutien aux Travailleurs Immigrés“ (ASTI) in ihrer Stellungnahme. „Wir wissen, dass Luxemburg alleine keine humanistischere, europäische Migrations- und Asylpolitik anstoßen kann“, heißt es in dem Dokument. Umso wichtiger sei es, dass Luxemburg „in seiner nationalen Gesetzgebung Kohärenz zeigt und Gesetze verabschiedet, die unserer humanistischen und fortschrittlichen Rhetorik entsprechen.“
Anstatt Menschen in Not bestmöglich zu unterstützen, ist die Priorität des Asylgesetzes, Missbrauch zu verhindern.“Marc Piron, ASTI
Nicht nur die ASTI erkennt das Spannungsverhältnis, das sich als roter Faden durch die Migrationspolitik des Großherzogtums zieht: Einerseits ein zuständiger Minister, der oft klare Worte findet, um an mehr Solidarität und Menschlichkeit zu appellieren und anders eingestellte EU-Staaten wie Österreich oder Ungarn scharf zu kritisieren. Andererseits beruht die Asylpolitik auch in Luxemburg auf legalen Restriktionen und administrativer Willkür, wie mehrere Experten kritisieren.
„Das ist nicht kohärent“, sagt Marc Piron von der ASTI im Gespräch mit Reporter.lu. In seinen Augen verfolgt das Luxemburger Asylgesetz von 2008 einen falschen Ansatz, denn es funktioniere nach dem Motto „cherchez l’intrus“ – also: Wer gehört nicht dazu? Oder: Wer fällt hier aus der Reihe? „Anstatt Menschen in Not bestmöglich zu unterstützen, ist die Priorität des Gesetzes, Missbrauch zu verhindern“, bemängelt Marc Piron.
Systematische Verletzung von Grundrechten
„Jean Asselborns Image als letzter Humanist in Europa ist aufgesetzt“, findet auch Frank Wies. Der Anwalt berät und begleitet seit langer Zeit Asylbewerber auf ihrem Weg durch den Luxemburger Verwaltungsdschungel. „Jahrelang Sonntagsreden, die gleiche Strategie und so gut wie kein Einfluss auf EU-Ebene“, bescheinigt er Luxemburgs Außen-, Immigrations- und Asylminister. Asselborns Mantra „Ich würde ja gerne, aber ich kann nicht“, sei nicht mehr glaubwürdig, so das Mitglied des Flüchtlingsrates.
Erst im August hatte der Luxemburger Flüchtlingsrat in einer Pressemitteilung auf Fälle von Grundrechtsverletzungen bei der Einreichung von Asylanträgen hingewiesen. In dem Schreiben wird den Mitarbeitern der Einwanderungsbehörde vorgeworfen, Schutzsuchende einzuschüchtern und sie davon abzuhalten, überhaupt einen Antrag zu stellen. „Es ist nicht Sache der Verwaltung, hier auszusortieren“, erklärt Frank Wies. Denn selbst wenn ein Antrag wenig Aussicht auf Erfolg habe, „das Recht, ihn zu stellen, ist grundlegend.“
„Besonders mit Menschen, die nach Luxemburg kommen, obwohl sie in einem anderen Mitgliedstaat bereits Asyl beantragt und vielleicht sogar auch erhalten haben, will Luxemburg nichts zu tun haben“, sagt Cassie Adélaide vom Verein „Passerell“. In Griechenland oder auch Italien sei der Schutzstatus mittlerweile bedeutungslos, da er Schutzsuchenden lediglich „ein Recht auf zutiefst unwürdige Lebensbedingungen gewährt“, heißt es in einem Schreiben der Organisation. Jene Anträge würde Luxemburg dennoch konsequent für „unzulässig“ erklären. Nicht selten binnen eines Tages. Die Folge: „Selbst Familien mit Kindern landen auf der Straße“, sagt Cassie Adélaide.
Überfüllte Heime und generelle Wohnungsnot
Die strikte Anwendung der „Dublin III“-Verordnung, die dafür sorgen soll, dass jeder Asylantrag innerhalb der EU nur einmal geprüft wird, hat für die Luxemburger Behörden vor allem einen Grund: Es soll vermieden werden, „dass die Unterkünfte des Office national de l’accueil (ONA) noch mehr überbelegt werden“, werden die Verantwortlichen in einer Erklärung von „Passerell“ zitiert. Die Wohnungsnot wird für immer mehr Menschen in der Luxemburger Gesellschaft zum Hauptproblem. Da ist es offensichtlich, dass die Schwächsten von ihr besonders hart getroffen werden.
3.186 Menschen leben derzeit in den Unterkünften des ONA (Stand: Mitte Oktober), die damit zu 81,7 Prozent ausgelastet sind. Doch diese Zahl trügt, da sich die Einrichtungen nicht bei 100, sondern spätestens ab 80 Prozent an der Belastungsgrenze befinden. Mehr Auslastung sei nicht zu erreichen, da sonst die Familieneinheit nicht mehr respektiert werden könne, heißt es hierzu aus dem Außenministerium.
Jean Asselborns Image als letzter Humanist in Europa ist aufgesetzt. Jahrelang Sonntagsreden, die gleiche Strategie und so gut wie kein Einfluss auf EU-Ebene.“Frank Wies, Anwalt und Experte für Asylrecht
Obwohl 2020 aufgrund der Pandemie nur etwa halb so viele Schutzsuchenden nach Luxemburg gekommen sind als noch in den Jahren zuvor, sind die Flüchtlingsheime voll ausgelastet. Dies liegt vor allem daran, dass viele Menschen, trotz anerkanntem Flüchtlingsstatus, weiterhin auf die Unterkunft in einem Heim angewiesen sind. 42,6 Prozent der Bewohner der Flüchtlingsheime wurde der internationale Schutz bereits zuerkannt. Doch den Allermeisten bleibt der reguläre Wohnungsmarkt weiterhin versperrt.
Je länger ein Geflüchteter in einem Flüchtlingsheim festsitzt, desto gravierender sind die Folgen für seinen Integrationsprozess. „Die Menschen werden weiter gebremst, Kommunitarismus wird begünstigt“, schreibt Passerell. Eine weitere Konsequenz der Überbelastung ist, dass in den Heimen für Neuankömmlinge kein Platz ist. Durch Mangel an Kapazitäten stößt Luxemburg bei der Aufnahme von Geflüchteten schnell an die eigenen Grenzen. Rhetorische Großzügigkeit hin oder her.
Integration „auf dem Abstellgleis“
„Als die Flüchtlingsheime noch unter die Zuständigkeit von Ministerin Corinne Cahen fielen, konnte Jean Asselborn sich großzügiger zeigen“, sagt der im Asylrecht spezialisierte Anwalt Frank Wies. Seit Januar 2020 gilt jedoch ein Gesetz, welches die Aufnahmestelle und damit auch die Organisation der Flüchtlingsunterkünfte unter die Verantwortung des Außenministeriums stellt, statt, wie zuvor, unter jene des Familienministeriums. Geflüchteten soll dadurch die Möglichkeit gegeben werden, „sich während der gesamten Bearbeitungszeit der Anträge auf internationalen Schutz und für alle Aspekte der Aufnahme (…) an einen einzigen Ansprechpartner zu wenden“, wie die Regierung die Entscheidung Anfang Januar in einer Pressemitteilung begründete.
Allerdings: Integration bleibt die Zuständigkeit des Familienministeriums. Die Einschätzung von Frank Wies ist eindeutig: „Seit die Integration vom Aufnahmebüro getrennt ist, steht sie auf dem Abstellgleis.“ Die ohnehin viel zu „paternalistische Betreuung“ von Asylbewerbern – Dach über dem Kopf, Essenslieferung, Einkaufsgutscheine – habe sich dadurch noch verschärft: „Eine Vermischung der Gesellschaft findet in der Zeit der Antragsstellung kaum statt“, sagt Frank Wies. Hier verspiele Luxemburg wertvolle Monate, manchmal gar Jahre. „Integration muss am ersten Tag nach der Ankunft beginnen“, sagt der Anwalt, Integration dürfe nicht nach dem Motto „Survival of the fittest“ funktionieren.
„Es sollen keine falschen Hoffnungen geweckt werden“, sagt Jacques Brosius, Abteilungsleiter für Integration aus dem Familienministerium. Die neue Verteilung der Zuständigkeiten und die Konzentration auf Menschen mit Bleiberecht böten seiner Abteilung nun die Möglichkeit, „Geflüchtete nicht getrennt zu behandeln, sondern alle Mitbürger in den Integrationsprozess mit einzubinden.“ Der nationale Aktionsplan für Integration stelle hierfür einen allgemeinen Rahmen dar, ein „Skelett, das nun mit Fleisch“ behängt werden müsse. Das soll durch konkrete Aktionen geschehen, für die Jacques Brosius besonders auch die Gemeinden in die Verantwortung nehmen möchte.
Begleitender Integrationsprozess gescheitert
Am 26. Oktober verschickte das Ministerium für Integration einen Brief an 24 Organisationen und 102 Gemeinden, um nach Ideen und Vorschlägen für eine fortschrittlichere Integrationspolitik zu suchen. Das Ministerium habe erkannt, dass das Gesetz vom Dezember 2008 durchaus reformbedürftig sei, wie es in dem Schreiben heißt. Wie bereits im Koalitionsvertrag festgehalten, sollen die beiden Instrumente, die dem Ministerium für Integration maßgeblich zur Verfügung stehen, angepasst werden.
Zum einen handelt es sich hierbei um den Aufnahme- und Eingliederungsvertrag (CAI), der sich an alle Ausländer mit Wohnsitz in Luxemburg richtet und der Zugezogenen neben einem Orientierungstag vor allem den ermäßigten Zugang zu Sprachkursen ermöglicht. Zum anderen soll der begleitende Integrationsprozess (PIA), der ursprünglich in drei Phasen unterteilt ist, weiterentwickelt werden.
Luxemburgs Asylpolitik in Zahlen
- Zwischen dem 1. Januar 2015 und dem 30. September 2020 wurden in Luxemburg 11.842 Anträge auf Asyl gestellt. Von diesen Personen haben 3.723 einen Schutzstatus erhalten.
- Im Jahr 2020 kamen die Schutzsuchenden vor allem aus folgenden Ländern: Syrien (23,3 Prozent), Eritrea (13,1 Prozent), Afghanistan (9,3 Prozent), Irak (5,1 Prozent) und Venezuela (5 Prozent).
- Zwischen dem 1. Januar 2015 und dem 30. September 2020 konnten rund 700 Personen mit Schutzstatus von der Möglichkeit der Familienzusammenführung Gebrauch machen.
- 3.186 Personen leben in den Unterkunftseinrichtungen des ONA (Stand: 15.10). Die Einrichtungen sind ausgelastet. 42,6 Prozent der Bewohner wurde bereits ein Schutzstatus zuerkannt.
Gerade einmal 10.000 Menschen haben den Aufnahmevertrag seit 2011 unterschrieben – bei einer Zuwanderung von etwa 25.000 Menschen jährlich. Es ist weder verpflichtend, noch werden Menschen aktiv dazu ermutigt, ihn zu unterschreiben. „Wir funktionieren nach der Philosophie der Freiwilligkeit“, sagt Jacques Brosius aus dem Familienministerium.
Das Programm des begleitenden Integrationsprozess sei aus der Pilotprojektphase 2017 nie wirklich herausgekommen, findet Marc Piron von der ASTI. Die Politik zeige Geflüchteten zu wenig Perspektiven auf und könne sie „während der Prozedur regelrecht blockieren.“ Der PIA, der ursprünglich vor allem den Zugang zum Arbeitsmarkt erleichtern sollte, „existiert höchstens in Ansätzen“, so die nüchterne Schlussfolgerung von Marc Piron.
Schwierige Integration in den Arbeitsmarkt
Dabei findet die tatsächliche Integration vor allem durch Arbeit statt. Was für geflüchtete Kinder und Jugendliche in den Schulen weitgehend gut zu funktionieren scheint – Sprachenerwerb, Unabhängigkeit, Teilhabe an der Gesellschaft – bleibt auf dem Arbeitsmarkt in Luxemburg weiterhin die Ausnahme. Die Zahlen sprechen eine klare Sprache: In den letzten sechs Jahren wurden 11.842 Anträge auf Asyl gestellt und 3.723 bewilligt. Doch nur 737 bei der ADEM eingeschriebene Asylbewerber konnten von Januar 2015 bis Mai 2020 in den regulären Arbeitsmarkt integriert werden.
Unter anderem die hohen Sprachanforderungen, fehlende Industrieberufe und geringe Fortbildungsmöglichkeiten für Quereinsteiger führen zu einem restriktiven Arbeitsmarkt. „Auf der einen Seite stehen die Menschen, die Kompetenzen haben und arbeiten möchten, auf der anderen Seite gibt es die Bedürfnisse des Arbeitsmarktes“, sagt Marc Piron von der ASTI. „Doch die beiden Enden kommen einfach nicht zusammen.“ Das sei besorgniserregend, zumal die Grenzgänger, die zum Teil täglich aus hundert Kilometer entfernten Wohnorten anreisen, eindrucksvoll zeigen, dass Luxemburgs Arbeitsmarkt durchaus weitere Arbeitskräfte braucht.
Die Situation wirke sich letztlich auf die gesamten Integrationschancen aus, schlussfolgert Marc Piron. Nach meist Jahren der Flucht, einer mittlerweile durchschnittlich 18 Monate andauernden Asylprozedur und durch den beschwerlichen Zugang zum Wohnungs- und Arbeitsmarkt werde es immer schwieriger, sich ein eigenständiges Leben aufzubauen. Ohne Eigenständigkeit sei Integration auf Augenhöhe jedoch kaum vorstellbar. Die Einschätzung deckt sich auch mit den Schilderungen mehrerer Betroffener, wie sie im REPORTER-Dossier „Geflüchtete im Porträt“ nachzulesen sind.
Politische Krise, Wohnungskrise, sanitäre Krise
„Natürlich beschweren wir uns hier auf hohem Niveau“, sagt Cassie Adélaide vom Verein „Passerell“. „Alle Antragsteller in Luxemburg haben ein Dach über dem Kopf“, sagt die Menschrechtsaktivistin, das sei europaweit leider nicht selbstverständlich. Sie verweist auf die desolaten Zustände in Griechenland, aber auch Italien, wo Asylbewerber nicht selten in Lagern oder auf der Straße leben. Trotz aller Baustellen sei das Leben in Luxemburg für Asylsuchende sicher besser als in vielen anderen europäischen Ländern. Doch das entlässt Luxemburg nicht aus der Verantwortung, sowohl im Land als auch auf EU-Ebene weiter für eine fortschrittliche Asylpolitik einzutreten.
„Das, was einige seit 2015 als Flüchtlingskrise bezeichnen, ist in erster Linie eine Krise der Wertvorstellungen und der Funktionsweise der Europäischen Union, zu der im Großherzogtum noch die Wohnungskrise hinzukommt“, schrieb die zivilgesellschaftliche Initiative „De Ronnen Dësch“ bereits im Juli 2017 in einem Positionspapier. Hinzu kommt nun, 2020, auch noch eine flächendeckende sanitäre Krise. Mit ihr verschlechtern sich die Lebensbedingungen, und damit auch die Integrationschancen von Schutzsuchenden weiter. Besonders an den Außengrenzen der EU, aber auch in Luxemburg.