Migrationspolitik: Bereit für hässliche Bilder
Verschärfte Abschieberegelungen, Augen zu und durch bei der Suche nach sicheren Drittstaaten – migrationspolitisch geht es in der EU immer weiter nach rechts, wie der Gipfel vergangene Woche in Brüssel zeigte.
Früher haben EU-Gipfel, bei denen es um Migration ging, häufig länger gedauert. Auf jeden Fall gab es meistens Zoff. Glaubt man Berichten darüber, was sich am Donnerstag vergangener Woche hinter verschlossenen Türen beim Treffen der Staats- und Regierungschefs der EU-Mitgliedsstaaten in Brüssel zugetragen hat, war das dieses Mal nicht mehr so. Schon nach drei Stunden ging man zum nächsten Punkt der Tagesordnung über. Das Kräfteverhältnis hat sich gewandelt; die Mehrheit steht jetzt rechts.
Das wirkt sich auf die Art aus, wie über das Thema gesprochen wird. „Viele Europäer sind es leid, dass wir Menschen von außerhalb helfen, die Verbrechen begehen“, soll Dänemarks sozialdemokratische Ministerpräsidentin Mette Frederiksen laut der britischen Tageszeitung „The Guardian“ gesagt haben: „Deshalb gibt es eine Grenze, wie vielen Menschen wir helfen können.“ Wenn man Asylsuchende pauschal als Verbrecher bezeichnen kann, wirkt sich das auch darauf aus, welche Vorschläge als diskutabel erscheinen. Habe sie früher über Dänemarks Pläne gesprochen, Asylbewerber*innen für die Dauer ihres Verfahrens nach Ruanda zu verfrachten, habe es ihr deutlich am Enthusiasmus des Publikums gefehlt, so die Politikerin mit dem erklärten Ziel einer „Null-Flüchtlinge-Politik“. Dies sei nun bei ähnlichen Überlegungen nicht mehr der Fall.
Und tatsächlich wird derzeit im Rat der Europäischen Union kaum etwas so heiß gehandelt wie die Frage, auf welche Weise sich das Problem der Flüchtlinge und Migrant*innen möglichst ganz nach außerhalb der EU-Grenzen verlagern lässt. EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen ist ganz vorne mit dabei. „Innovative Wege zur Bekämpfung der illegalen Migration“ seien vonnöten, ließ sie schon am Montag vor dem Gipfel in einem an dessen Teilnehmer*innen gerichteten Brief wissen. Um zu zeigen, wie ernst es ihr damit ist, nahm sie noch am Morgen vor dem Gipfelbeginn an einem Treffen von elf Staats- und Regierungschefs teil, die als entschlossene Hardliner gelten. Eingeladen hatten neben Dänemark auch Italien und die Niederlande; Österreich, Polen, Zypern, die Tschechische Republik, Griechenland, Ungarn, die Slowakei und Malta waren als Gäste mit von der Partie.
Zwar sind nicht alle von der derzeit kursierenden Idee überzeugt, die Anzahl der Flüchtlinge und Migrant*innen zu reduzieren, indem man Asylanträge und Abschiebungen möglichst „offshore“ in dafür einzurichtenden „hubs“ erledigen lässt – ähnlich wie Italien, das in Albanien ein solches Zentrum für Asylverfahren eingerichtet hat. Unter anderem Spaniens Ministerpräsident Pedro Sanchez, der belgische Premierminister Alexander de Croo und sein Luxemburger Kollege Luc Frieden äußerten ihre Skepsis. Solche Ansätze seien „langfristig nicht tragfähig“, bekräftige Frieden diese Woche in der außenpolitischen Kommission der Chamber.
Das gemeinsame Ziel ist jedoch klar: „Der Europäische Rat ruft zu entschlossenem Handeln auf allen Ebenen auf, um die Rückführung aus der Europäischen Union zu erleichtern“, heißt es in den auf dem Gipfel verabschiedeten „Schlussfolgerungen“. Im Klartext bedeutet das politischen und wirtschaftlichen Druck auf die jeweiligen Herkunftsländer wie auch auf Transitstaaten, um die Menschen dorthin abschieben zu können, von wo sie in die EU gekommen sind. Zudem möchte man die Anreize für diese Länder erhöhen, um bei der Flucht- und Migrationsbekämpfung mit der EU zu kooperieren. Dazu müssten „neue Wege zur Verhinderung und Bekämpfung von irregulärer Migration im Einklang mit dem EU-Recht und dem Völkerrecht geprüft werden“.
Die Innovationswut mag zunächst erstaunen; war doch erst im Mai dieses Jahres die Reform des „Gemeinsamen Europäischen Asylsystems“ (GEAS) vom Rat der EU in letzter Instanz verabschiedet worden („Politik folgt Praxis“ in woxx 1782). Diese bedeutet in vielen Punkten eine substanzielle Aushöhlung des bislang formal bestehenden Flüchtlingsschutzes, deren Umsetzung nun bis spätestens Sommer 2026 auf nationaler Ebene vorbereitet werden muss. Doch die Tinte unter dem Migrationspakt war noch nicht trocken, da preschten 15 der 27 Mitgliedsstaaten bereits mit dem Ruf nach einer weiteren Verschärfung vor. Man müsse „outside the box“ denken, um die migrationspolitischen Herausforderungen zu bewältigen, hieß es in einem Mitte Mai von den Staats- und Regierungschefs unter anderem Dänemarks, Italiens, Griechenlands, Polens und Österreichs und der baltischen Staaten unterzeichneten Brief. Die bestehende Zusammenarbeit „mit wichtigen Partnerländern entlang der Migrationsrouten“ sei zu optimieren; eine Änderung der EU-Direktive, unter welchen Maßgaben Abschiebungen möglich sind, sei zu prüfen.
„Es muss in einem demokratischen Staatenverbund möglich sein, dass jeder Mensch ein faires Asylverfahren bekommt.“ Karl Kopp, Pro Asyl
Ganz in diesem Sinne legten kurz vor dem jetzigen Gipfel Österreich und die Niederlande ein „non-paper“ vor. Dieses war noch konkreter formuliert und sollte die Akzeptanz der darin enthaltenen Vorschläge testen. Die Vorlage wurde von zwölf weiteren EU-Ländern, darunter Luxemburg, sowie den Schengen-Ländern Norwegen, Schweiz und Liechtenstein unterstützt. Von einem nötigen „Paradigmenwechsel“ bei Abschiebungen ist darin die Rede: „Personen, die kein Bleiberecht haben, müssen zur Verantwortung gezogen werden.“ Dazu bedürfe es einer neuen Rechtsgrundlage, die „den tatsächlichen Herausforderungen und Entwicklungen Rechnung trägt“.
Genau so hat das dann auch Eingang in die Schlussfolgerungen des Gipfels gefunden, wo die EU-Kommission aufgefordert wird, „umgehend“ einen entsprechenden Gesetzgebungsvorschlag vorzulegen. Nur fünf Monate nach Verabschiedung des Migrationspaktes haben es die Positionen derer, die im Mai noch als „hardliner“ galten, also auf eine solide Mehrheit im EU-Rat und, wie von der Leyens Positionierung zeigt, zur Anerkennung durch die EU-Kommission gebracht.
„Ein massives Zugeständnis an die Rechtspopulisten“, sagt dazu Karl Kopp. Der Geschäftsführer der in Frankfurt am Main ansässigen NGO „Pro Asyl“ hat dabei vor allem von der Leyens Rolle im Blick. Rechtliche Normen, deren inhaltliche Substanz, spielten in der aktuellen Entwicklung kaum noch eine Rolle. Dies gelte insbesondere für die Diskussion um vermeintlich „sichere Drittstaaten“ und „Cash gegen Migrationskontrolle“-Deals mit Staaten wie Tunesien. Mit einem „auf Rechtstaatlichkeit, Menschenwürde und Menschenrecht basierenden Grundverständnis des Projektes Europa“ habe das rein gar nichts mehr zu tun, so Kopp gegenüber der woxx.
Auf der Suche nach „sicheren Drittstaaten“ basieren nahezu alle der derzeit kursierenden Ideen. Dort sollen die angedachten Ankunfts- wie auch die Abschiebezentren geschaffen werden; vor allem soll in diese Länder abgeschoben werden. Damit das geschehen kann, will von der Leyen Nägel mit Köpfen machen: „Wir haben uns bereits verpflichtet, das Konzept der als sicher eingestuften Drittstaaten bis zum nächsten Jahr zu überarbeiten“, versicherte sie in ihrem Brief. Nach der Revision der Regeln, laut der Online-Nachrichtenplattform „EUObserver“ für Juni kommenden Jahres geplant, soll es ausreichen, „bestimmte Teile des Hoheitsgebiets eines Landes als sicher oder sicher genug für bestimmte Personengruppen einzustufen“ – Abschiebungen also in Länder unter Bedingungen von Bandenherrschaft und Staatszerfall.
Auch sonst ist man im Sinne der aktuellen Debatte „innovativ“. Wie ihre Kollegin Mette Frederiksen möchte Italiens Ministerpräsidentin Giorgia Meloni die Sicherheit in Syrien neu bewerten. Österreichs Bundeskanzler Karl Nehammer meinte, dort müsse es „dokumentiert sicher“ sein, da Menschen angesichts der israelischen Angriffe auf die Terrorgruppe Hisbollah vom Libanon nach Syrien flüchteten.
Als „abscheulich und rechtlich nicht machbar“ bezeichnete die niederländische grüne EU-Abgeordnete Tineke Strik derlei Diskussionen auf „X“. Sie wies zudem darauf hin, dass nach den derzeit geltenden Regeln „abgelehnte Asylbewerber nicht zwangsweise in Länder abgeschoben werden, die sie nicht durchquert haben“. Das sogenannte Verbindungskriterium sieht vor, dass Flüchtlinge und Migrant*innen nur in Länder abgeschoben werden dürfen, zu denen sie einen Bezug haben – und sei es auch nur, dass es sich um ein Transitland auf ihrer Route nach Europa handelte. Catherine Woollard befürchtet, dass genau dieses Kriterium abgeschafft werden soll. „Das würde eine erhebliche Verschlechterung des EU-Asylrechts darstellen“, so die Direktorin der in Brüssel ansässigen Organisation „Europäischer Rat für Flüchtlinge und Exilanten“ (Ecre): „Potenziell wäre es dann erlaubt, Menschen in jedes beliebige Land zu schicken.“
Der Migrationsforscher Gerald Knaus beurteilte die Vorschläge von der Leyens im Nachrichtenprogramm des deutschen Fernsehsenders „ZDF“ als unrealistisch, planlos und als „Armutszeugnis“. Er sprach dabei auch die Idee von Abschiebezentren in Drittstaaten an: „Nicht einmal Albanien ist heute dazu bereit, Menschen, deren Asylantrag von Italien in Albanien abgelehnt wird, dauerhaft in Albanien zu belassen“, so Knaus über das italienische Pilotprojekt. Er plädiert statt dessen für Abkommen wie jenes von 2016 mit der Türkei, als dessen Architekt er gilt. „Das hat dazu geführt, dass die Zahl der Menschen, die gekommen sind, von 150.000 in drei Monaten auf 5.000 in drei Monaten, also auf drei Prozent, gefallen ist“, so Knaus gegenüber demselben Sender.
Karl Kopp ist gar nicht überzeugt von diesem vermeintlichen Erfolgsrezept. Wenige Monate, nachdem das Abkommen unterzeichnet worden sei, habe der Putsch gegen Staatspräsident Recep Tayyip Erdoğan stattgefunden, gibt der Pro-Asyl-Geschäftsführer zu bedenken: „Danach hat es eine große Bürger- und Menschenrechtskrise in der Türkei gegeben.“ Das Abkommen habe überdies für die unerträglichen Zustände in den Flüchtlingslagern auf den griechischen Inseln gesorgt. Und es habe nur für Flüchtlinge aus Syrien gegolten.
Mittlerweile schiebt die Türkei auch dorthin wieder ab; 57.000 Menschen sind es im vergangenen Jahr gewesen. Die Kooperation mit Ländern wie Tunesien, wo unter dem autoritär herrschenden Präsident Kaïs Saïed Flüchtlinge rassistisch diskriminiert und teils in der Wüste ausgesetzt werden („Dreckige Deals“ in woxx 1800), oder mit Libyen, wo Menschenhändler und bewaffnete Banden als offizielle Küstenwächter firmieren („Beute der Banden“ in woxx 1795), findet sich in einem ähnlich trüben Licht. Sogar mit Mali, dessen Militärherrscher Assimi Goita sich derzeit schwerer bewaffneter Angriffe durch islamistische Gruppen ausgesetzt sieht, möchte von der Leyen verhandeln.
„Die Erfahrung zeigt, dass Offshore-Asylsysteme in der Praxis nicht auf eine Weise funktionieren, in der die Rechte der Menschen und das Völkerrecht respektiert werden“, resümiert Judith Sunderland, stellvertretende Direktorin für Europa und Zentralasien bei „Human Rights Watch“. Eine Betrachtung, der sich Karl Kopp von Pro Asyl nur anschließen kann. „Es muss in einem demokratischen Staatenverbund möglich sein, dass jeder Mensch ein faires Asylverfahren bekommt“, sagt er.
Pro Asyl ist deshalb prinzipiell gegen das Konzept vermeintlich sicherer Drittstaaten. Nicht nur wolle man damit Verantwortung abschieben; die Flüchtlingsdeals hätten nicht zuletzt zum Zweck, andere jene Methoden anwenden zu lassen, auf die man selbst nicht zurückgreifen will: „Das hat den Vorteil, dass die hässlichen Bilder ausgelagert sind.“ Allerdings, so Kopp, finde auch hier derzeit ein Umdenken statt: „Europa ist mittlerweile bereit, die hässlichen Bilder selbst zu produzieren.“