Ohne Rücksicht auf Verluste
Die Zeit 3. August 2023
(2 Fragen : war Luxemburg bei den 12 Mitgliedstaten , war 1 Luxemburger EU Parlamentarier bei den 37?)
Interne Unterlagen zeigen: Das Auswärtige Amt und mehrere EU-Mitgliedsstaaten sind empört darüber, wie die Kommission den Migrationsdeal mit Tunesien durchgepeitscht hat. Von Franziska Grillmeier, Bastian Mühling und Yassin Musharbash
Es klang wie ein Durchbruch, und so sollte es auch klingen: Man habe ein »gutes Paket« geschnürt, erklärte Ursula von der Leyen, Präsidentin der EU-Kommission, am 16. Juli. Das Memorandum zwischen der EU und Tunesien ermögliche eine »integrierte Bewältigung der Migrationskrise«, sekundierte Giorgia Meloni. Der Deal, so die italienische Ministerpräsidentin, könne Vorbild für weitere Abkommen mit nordafrikanischen Staaten sein. Auch von der Leyen wünschte sich, dass das Abkommen anderswo »nachgeahmt« werde.
Doch hinter den Kulissen tobt ein heftiger Streit um die Vereinbarung, mit der die EU der tunesischen Regierung viele Millionen Euro zur Verfügung stellen will, um im Gegenzug zu erreichen, dass sich weniger Boote mit Migrantinnen und Migranten von Tunesien aus auf die riskante Mittelmeerroute begeben können.
Der Konflikt ist in vertraulichen Unterlagen des Auswärtigen Amtes dokumentiert, die der ZEIT vorliegen. So werfen der Juristische Dienst des Rates der Europäischen Union, der Europäische Auswärtige Dienst und zahlreiche Mitgliedsstaaten der EU-Kommission vor, das Abkommen an ihnen vorbei geschlossen zu haben. Denn der Rat, der aus je einem Vertreter jedes Mitgliedsstaats auf Ministerebene besteht, gestaltet laut Artikel 16 des EU-Vertrages die europäische Politik mit. Was im Falle dieses Deals eben nicht passiert ist. Laut der Niederschrift deutscher Diplomaten empörte sich ein Vertreter des Juristischen Dienstes des Rates in einem Meeting zehn Minuten lang über diese »hochgradige Respektlosigkeit«. Man behalte sich gerichtliche Schritte vor. Auf Anfrage der ZEIT wollte eine Sprecherin den Vorgang nicht kommentieren.
Auch das deutsche Außenministerium ist der Ansicht, die Kommission habe den Rat übergangen. Vereinbart sei für diese Art von Abkommen eine Unterrichtungsfrist von fünf Wochen vor Unterzeichnung, heißt es in einem internen Briefing des Hauses von Außenministerin Annalena Baerbock (Grüne). »Es ist nicht akzeptabel, wenn ein solches MoU (Memorandum of Understanding, Anm. d. Red.) unterzeichnet wird, ohne dass der Rat vorher seine Zustimmung gibt.«
Laut den Dokumenten aus dem Auswärtigen Amt trugen deutsche Vertreter diese Kritik am 19. Juli bei einem Treffen der Ratsarbeitsgruppe »Mashrek/Maghreb« auch vor und bezeichneten das Vorgehen der Kommission als »absolut inakzeptabel«. Zwölf weitere Mitgliedsstaaten, darunter Frankreich, Österreich, Belgien und Griechenland, zeigten sich ebenfalls irritiert. Einem der Vermerke zufolge gelobte die Kommission in einem anderen Meeting Besserung bei der Einbeziehung des Rates, merkte jedoch an, dass derart »intensive Gefühle« im Vorfeld des Deals nicht zur Sprache gekommen seien. Auf eine Anfrage der ZEIT antwortete die Kommission bis Redaktionsschluss nicht.
Der Deal zwischen der EU und Tunesien sieht vor, dass Tunesien dafür sorgt, Menschen von der Flucht nach Europa abzuhalten. Für Such- und Rettungsaktionen auf See und die Rückführung von Migranten will die EU-Kommission dem nordafrikanischen Land in diesem Jahr 100 Millionen Euro zur Verfügung stellen. Insgesamt stellte die EU gut 900 Millionen Euro an Hilfsgeldern in Aussicht.
Dass Handlungsbedarf besteht, schon um das Sterben auf dem Mittelmeer zu reduzieren, ist in der EU Konsens. Allein im laufenden Jahr hat Tunesien nach eigenen Angaben 901 Tote auf See geborgen. Allerdings verpflichtet sich Tunesien in dem Abkommen lediglich dazu, eigene Staatsangehörige aufzunehmen, sollten diese nach einem erfolglosen Asylverfahren in der EU zurückgeschickt werden. Dies ist ein Unterschied etwa zum EU-Türkei-Abkommen, in dem Ankara sich verpflichtete, irreguläre Migranten zurückzunehmen, die von der Türkei aus kommend in Griechenland erstmals EU-Territorium betreten.
Im deutschen Außenministerium herrscht herbe Enttäuschung über das Abkommen, weil die Verhandlerinnen Meloni und von der Leyen die Zusammenarbeit mit Tunesien nicht an humanitäre Standards und Regeln des Völkerrechts geknüpft hätten: Es sei »unverständlich, dass weder Demokratie noch Rechtsstaatlichkeit (…) Erwähnung finden«, heißt es in einem internen Rundschreiben des Hauses von Annalena Baerbock, in deren Partei das Abkommen ebenfalls umstritten ist. Die EU habe wenig erreicht, steht darin weiter, wichtig wäre es gewesen, die Lage der in Tunesien gestrandeten Flüchtlinge zu verbessern, etwa durch Zugang zu Aufenthaltstiteln.
Tatsächlich steht Tunesien gerade in diesen Tagen wegen seiner teils unmenschlichen Politik im Fokus: Nicht nur baut Staatspräsident Kais Saied das Land in eine Autokratie um; tunesische Behörden haben nach Berichten von Medien und Menschenrechtsorganisationen Hunderte afrikanische Migrantinnen und Migranten im Grenzgebiet zu Libyen in der Wüste ausgesetzt. Mehrere Menschen kamen dort ums Leben, mutmaßlich durch Erschöpfung oder Verdursten.
Mit seiner inhaltlichen Kritik an dem Deal steht das Auswärtige Amt allerdings nahezu allein da: Außer Luxemburg und »sehr abgeschwächt Irland und Dänemark« teile kaum ein Mitgliedsstaat »unsere Einschätzung zu inhaltlichen Schwachstellen des MoU«, heißt es in einem der Dokumente.
Mehr Gegenwind gibt es aus dem EU-Parlament: In der vergangenen Woche veröffentlichten 37 Abgeordnete einen Brief an Kommissionspräsidentin von der Leyen. Sie beklagen darin, dass das Abkommen zwischen der EU und Tunesien »zentrale Menschenrechtsprobleme, die in Tunesien beobachtet wurden, nicht anspricht«. Dies berge die Gefahr, so heißt es in dem Schreiben, dass »die Politik der Europäischen Union zu solchen Verletzungen beiträgt oder diese fortsetzt und Straffreiheit für die Verantwortlichen ermöglicht«.