Ein Artikel aus der digitalen Ausgabe, Feuilleton der Süddeutschen Zeitung vom 06.11.2017
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Flüchtlinge erzeugen Strom auf Leihfahrrädern
Von Alex Rühle
Wenn man noch irgendwas retten will, muss es jetzt schnell gehen. Das wurde am Wochenende so deutlich wie selten. An diesem Montag beginnt die UN-Klimakonferenz COP23 in Bonn, an den zwei Tagen davor trafen sich Klimaforscher, Anthropologen, Natur- und Kulturwissenschaftler auf Einladung des Deutschen Instituts für Entwicklungspolitik und des International Institute for Applied Systems Analytics zu einer so hochkarätig wie interdisziplinär besetzten “Crossroads”-Konferenz darüber, wie die nächsten, möglichst großen Schritte auszusehen haben.
Der Kohlenstoffausstoß muss jede Dekade um die Hälfte reduziert werden. Gleichzeitig muss man alle 195 Staaten mitnehmen in diese Zukunft. Man müsste die Wirtschaft und die Energieversorgung radikal umbauen, gleichzeitig macht es der politisch-populistische Backlash vielerorts fast unmöglich, das bisher Erreichte überhaupt zu halten.
Es geht hier auf den Panels also um große Aporien und noch größere Begriffe. Nachhaltigkeit, Transformation und Multilateralismus tanzen einen rhetorischen Reigen – bis Ngedikes Olai Uludong, UN-Botschafterin aus Palau, am Sonntagmorgen sagt, wir diskutieren hier in unserer Blase, aber im Grunde haben wir alle nur Angst davor, was Donald Trumps Delegation auf der Konferenz vom Stapel lassen wird. Palau ist ein Inselstaat im Pazifischen Ozean, dessen viele Inseln noch in diesem Jahrhundert in den optimistischen Szenarien unbewohnbar werden, in den pessimistischen vollständig untergehen.
Umso erstaunlicher, dass direkt nach Uludongs Panel zwei amerikanische Regierungsmitarbeiter auf der Rednerliste stehen, Steven Fibster Fine und Robert Brattice Kravlock, Verwaltungsangestellte im amerikanischen Umweltministerium. Sie haben den Europäern ein Projekt mitgebracht, mit dem sie gleich zwei zentrale Probleme zu lösen versprechen: die Flüchtlingskrise. Und unser hysterisches Reden über den ja nur eingebildeten Klimawandel. Refugreenergy! Flüchtlinge bekommen Leihfahrräder, mit denen sie Strom erzeugen. Win win allerorten, die Flüchtlinge erhalten 1,60 Euro pro Tag und für die Zeit des Kurbelns einen temporären legalen Status. Die Europäer bekommen ein chices Startup, grünen Strom und werden gleichzeitig ihre Schuldgefühle den Flüchtlingen gegenüber los, weil die ja endlich etwas zu tun kriegen.
Das Ganze ist selbstverständlich Satire. Steven Fibster Fine und Robert Brattice Kravlock heißen in Wahrheit Igor Vamos und Jacques Servin, zusammen sind sie die Yes Men, zwei New Yorker Aktivisten, die mit ihren Aktionen Protestgeschichte geschrieben haben: Sie geben sich seit 20 Jahren als Mitarbeiter internationaler Konzerne oder Organisationen aus, lassen sich auf Wirtschaftskonferenzen einladen und karikieren dort, in der Höhle des Löwen, mit grotesk überzogenen Projekten die neoliberalen Ziele dieser Firmen oder versuchen, deren rücksichtsloses Fehlverhalten in der Öffentlichkeit aufzudecken. So gaben sie am 20. Jahrestag des schweren Chemieunfalls im indischen Bhopal als vermeintliche Sprecher von Dow Chemical ein BBC-Interview, in dem sie Tausenden von Opfern Entschädigungszahlungen in Aussicht stellten. Die Aktien von Dow Chemical brachen daraufhin um zwei Milliarden Dollar ein. Dow Chemical dementierte panisch. Profitlogik kann man kaum effektiver demaskieren.
All die Aktionen haben einen ernsten Kern, es geht den beiden um ein gerechteres, nachhaltiges Wirtschaftssystem. Im fernen Jahr 2009 ließen sie 1,2 Millionen Exemplare einer 14-seitigen New York Times drucken, in der ausnahmslos gute Nachrichten standen, vom Ende des Irakkriegs über die Einführung einer allgemeinen Krankenversicherung bis zum Entschluss, alle in New York aufbewahrten Schwerter zu Pflugscharen für Urban Gardening umzuschmelzen. Das ist die freundliche Version von Fake News, positiv gemeint und sofort als Lüge erkennbar – mit dem dahinter stehenden Impuls, den Leuten zu zeigen, was politisch alles möglich wäre. Acht Jahre später wirkt die Aktion, zu der das Festival “Save the World” des Theaters Bonn die beiden Aktivisten eingeladen hat, ein wenig angestaubt. Das Publikum merkt spätestens nach dem dritten Dia, dass das hier groteske Satire ist.
Außerdem sind auf dieser Konferenz eh alle auf derselben Seite. Die Wissenschaftler im Publikum spielen das Spiel denn auch sofort mit, indem sie das ironisch-zynische Setting nach dem Vortrag weiterdenken: Wenn die Flüchtlinge den Temperaturanstieg stoppen, so eine Zuschauerin, kommt ja bald gar kein neuer Nachschub aus den südlichen Ländern, bricht da nicht euer Geschäftsmodell zusammen? “You got us”, grinst Igor Vamos.
Insofern könnte man sagen, das Ganze war in postfaktischen Zeiten, in denen echte Politik oft schriller wirkt als jede unechte Satire, und Ironie längst auch die letzten Winkel unserer Kommunikation durchdringt, recht dünn, zumal die refugreenergy-Aktion im Oktober schon einmal in Brüssel gezeigt und dort auch als Hoax entlarvt wurde.
Man kann das Ganze aber auch als Ermunterungs- oder Ertüchtigungsaktion sehen: Worunter all die Wissenschaftler hier in Bonn am meisten leiden, das ist die Tatsache, dass sie dauernd schreien, die Welt gehe unter, aber das Gefühl haben, nur innerhalb ihrer eigenen “Nachhaltigkeitsblase” (so der Politologe Dirk Messner) gehört zu werden. Vielleicht sollten Messner und seine Kollegen ihre Vorträge in Zukunft ähnlich performativ aufrüsten wie die Yes Men. Vielleicht wäre das in Zeiten offizieller Lügen und politischer Schmierenkomödie aber auch genau der falsche Weg.
Alex Rühle
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Alex Rühle wurde 1969 geboren und wuchs in den Isarauen auf, wo er eines Tages Andreas Zielcke über den Weg lief. Der nahm ihn mit zur SZ, wo Rühle seither Junge für alles ist. Wenn er nicht im Büro ist, sitzt er entweder auf seinem Fahrrad, spielt was von Bach oder schaut seinen Kindern beim Großwerden zu.