SPIEGEL: Herr Leggeri, an der griechisch-türkischen Grenze versuchten Flüchtlinge unlängst, Zäune zu überwinden. Es kam zu gewaltsamen Zusammenstößen mit griechischen Sicherheitskräften. Wie sehen Sie die Situation?
Fabrice Leggeri: Ich habe Mitte März die Gegend gemeinsam mit dem griechischen Innenminister besucht. Zu dem Zeitpunkt startete dort unser Frontex-Einsatz. Die Entscheidung Griechenlands, die EU-Außengrenze zu sichern und dazu Frontex anzufordern, beweist, dass sich eine Krise wie 2015 nicht wiederholen wird.
SPIEGEL: Hat die Türkei die Eskalation an der Grenze bewusst herbeigeführt?
Leggeri: Zunächst hat die Türkei verkündet, die Grenze nach Griechenland zu öffnen. Das hat viele Menschen dazu bewogen, sich auf den Weg zu machen. Die Türkei hat darüber hinaus Busse eingesetzt, um Menschen direkt an die Grenze zu bringen. Unter ihnen waren auch Männer, die keine regulären Migranten waren und Tränengas gegen uns eingesetzt haben. Das geschah sicherlich nicht spontan.
SPIEGEL: Sie gehen davon aus, dass die Türkei Menschen ausgerüstet hat, um EU-Grenzschützer zu attackieren?
Leggeri: Ich kann das nicht bestätigen, wir können aber auch nichts ausschließen.
SPIEGEL: Was folgt daraus für das Verhältnis der EU zur Türkei?
Leggeri: Es gibt einen Dialog zwischen der EU und der Türkei, und ich hoffe, dass dieser Dialog fortgesetzt wird. Das liegt in unser aller Interesse.
SPIEGEL: Wie viele Beamte hat Frontex an der griechisch-türkischen Grenze im Einsatz?
Leggeri: Wir haben 200 Beamte an die griechisch-türkische Landesgrenze gebracht, dazu viele Polizeifahrzeuge. Auf den griechischen Inseln sind jetzt etwa 600 Frontex-Beamte im Einsatz.
SPIEGEL: Was passiert, wenn die Situation sich zuspitzt?
Leggeri: Zurzeit sind genügend Kräfte vor Ort. Wir könnten sie weiter aufstocken, wenn die Situation es erfordert. Die Beamten, die wir in Griechenland eingesetzt haben, sollen die Grenze überwachen. Wir helfen also, Migranten zu registrieren, Fingerabdrücke zu nehmen und unterstützen Griechenland bei der Rückführung. Meine Beamten dürfen Menschen festhalten und sind bewaffnet.
“Wir drängen niemanden zurück – das ist illegal”
SPIEGEL: Darf Frontex Migranten zurückdrängen oder am Übertritt der Grenze hindern?
Leggeri: Unsere Beamten folgen dem EU- und Völkerrecht. Wir drängen niemanden zurück – das ist illegal. Unsere Aufgabe ist es, Griechenland zu unterstützen. Wir sorgen dafür, dass Europas Grenzen nicht unkontrolliert überschritten werden.
SPIEGEL: Was tun Sie konkret?
Leggeri: Unsere Beamten patrouillieren an der Grenze auf Land und See zusammen mit den griechischen Behörden. Wir haben viele Fahrzeuge, Schiffe, aber auch Luftüberwachung.
SPIEGEL: Unter welchen Umständen dürften die Beamten dabei auch Gewalt anwenden?
Leggeri: Gewalt muss immer angemessen angewendet werden. Seit es Frontex gibt, haben unsere Beamten kein einziges Mal geschossen.
SPIEGEL: Wie wird es weitergehen an der griechisch-türkischen Grenze?
Leggeri: Für Frontex kann ich sagen, dass wir bereit sind, Griechenland weiterhin zu unterstützen. Schon jetzt helfen 25 Mitgliedstaaten dabei. Europa ist sich einig. Wir haben unsere Lehren aus dem Jahr 2015 gezogen. Niemand möchte, dass sich das wiederholt.
SPIEGEL: Wie beeinflusst das Coronavirus Ihre Arbeit in Griechenland?
Leggeri: An den Außengrenzen sind unsere Beamten mit Masken und Handschuhen ausgestattet, alle folgen den Hygienevorschriften und wissen auch, welcher Sicherheitsabstand einzuhalten ist. Wir folgen den Richtlinien von Gesundheitsbehörden.
SPIEGEL: Was bedeutet es für Frontex, wenn die EU jetzt wegen des Coronavirus ihre Außengrenzen vorübergehend schließt?
Leggeri: Zurzeit sind etwa tausend Grenzbeamte der Mitgliedstaaten im Frontex-Einsatz, die meisten in Griechenland, andere in Italien, Spanien und der Balkanregion. Sie werden wegen des Coronavirus bleiben, wo sie sind. Es gibt keine Rotation.
Kameras an Ballons
SPIEGEL: Zu den Aufgaben von Frontex gehört es, Informationen zu gewinnen. Welche technischen Möglichkeiten stehen Ihnen dafür zur Verfügung?
Leggeri: Wir haben Zugang zu Satellitenbildern und Flugzeuge. Wir testen auch Drohnen in Griechenland, Italien und Portugal. Auf den griechischen Inseln setzen wir mit Kameras bestückte Ballons ein.
SPIEGEL: Wonach schauen Sie?
Leggeri: Wir wollen illegale Grenzübertritte erkennen. Dann müssen die Behörden prüfen, ob diese Personen schutzbedürftig sind. Wir bekommen aber auch mit, wenn kleine Boote in Seenot geraten, und können Hilfe leisten.
SPIEGEL: Werden die Drohnen von Warschau aus gesteuert, wo Frontex seine Zentrale hat?
Leggeri: Das kann man von Warschau aus machen. Uns stehen dort auf jeden Fall die Bilder dieser Drohnen zur Verfügung, ebenso wie an den Einsatzorten in Griechenland oder Italien.
SPIEGEL: Ist Frontex auch außerhalb der EU präsent?
Leggeri: Wir haben Verbindungsbeamte in Ländern wie Niger, dem Senegal, der Türkei und in der Balkanregion. Sie nutzen dort ihre Kontakte, um Risikoanalysen zu betreiben. Wir sammeln Informationen und tauschen sie aus. Dazu gehört, dass wir Migranten an den Außengrenzen befragen, etwa darüber, warum diese Menschen gekommen sind und auf welchen Wegen. Wir stellen diese Daten Europol oder nationalen Polizeibehörden für Ermittlungen gegen Schleuserorganisationen zur Verfügung. Wir sind die Augen und Ohren der Polizei an den Außengrenzen.
“Die EU braucht eine Migrationspolitik”
SPIEGEL: Kann Frontex auch eigenmächtig Grenzen schützen?
Leggeri: Jeder Mitgliedstaat ist souverän. Wenn wir aber Schwachstellen feststellen, können wir diesem Staat eine Frontex-Operation anbieten.
SPIEGEL: Wird Frontex künftig verstärkt ausreisepflichtige Ausländer rückführen?
Leggeri: Diese Aufgabe werden wir künftig noch häufiger übernehmen. Im vergangenen Jahr haben wir 16.000 Migranten zurückgebracht und rund 330 Charterflüge organisiert. Auf normalen Flügen haben wir mit den Fluggesellschaften bestimmte Bedingungen verhandelt, dazu gehört, dass wir bis kurz vor Abflug die Namen der Personen ändern können, ohne dass zusätzliche Gebühren entstehen. Das schafft mehr Flexibilität und spart Kosten. Wir helfen den Mitgliedstaaten außerdem, die Reisedokumente zu bekommen.
SPIEGEL: In vielen Regionen dieser Welt herrschen Armut, Kriege und Konflikte. Wie wird sich das auf die Migration auswirken?
Leggeri: Bis zum Jahr 2050 soll die Bevölkerung Afrikas auf mehr als zwei Milliarden Einwohner anwachsen, viele Länder dort sind politisch labil. Die wirtschaftliche Entwicklung wird das nicht auffangen können. Zahlreiche Menschen hoffen auf eine Zukunft in Europa. Dazu kommen Schutzbedürftige aus Syrien und anderen Kriegsgebieten. Europa muss sich darauf vorbereiten. Die EU braucht nicht nur ein Grenzmanagement, sondern auch eine Migrationspolitik. Die Kommission wird dazu bald Vorschläge machen. Dazu gehört aber auch, dass Frontex eigenes Personal für den Grenzschutz erhält.
SPIEGEL: Vorgesehen war ein Frontex-Budget von mehr als elf Milliarden Euro von 2021 bis 2027.
Leggeri: Die Hälfte davon ist für Personalkosten vorgesehen, weitere 2,2 Milliarden Euro für die technische Ausstattung wie Schiffe, Flugzeuge und andere Geräte.
SPIEGEL: Nun soll es aber drastische Kürzungen geben.
Leggeri: Die finnische und kroatische EU-Präsidentschaft wollten das Frontex-Budget um 50 Prozent reduzieren. Das darf nicht sein. Minus 50 Prozent bedeutet, dass wir nicht einmal das leisten können, was wir gegenwärtig machen. Wir brauchen daher starke Stimmen, die das verhindern.
SPIEGEL: Ist das Ihre Erwartung an die deutsche Ratspräsidentschaft, die im Juli beginnt?
Leggeri: Ich hoffe, dass die Mitgliedstaaten den Ausbau der ständigen Reserve auf 10.000 Beamte unterstützen. Dazu müssen sie nicht nur mit Geld, sondern auch mit Personal beitragen.