Dass die Bewohnerinnen und Bewohner der griechischen Inseln gegen die untragbaren Zustände protestieren, ist mehr als verständlich. Seit Jahren werden sie mit den aus der Türkei ankommenden Flüchtlingen allein gelassen. Zurecht fordern sie, dass Flüchtlinge aufs Festland weiterziehen können, und dass keine geschlossenen Lager auf den Inseln errichtet werden. An den elenden Zuständen in den Lagern und den Zumutungen für die Einheimischen sind aber weder die Flüchtlinge noch die Freiwilligen und Hilfsorganisationen schuld, die die Ankommenden unterstützen. Man muss annehmen, dass die griechische Regierung die Situation auf den Inseln bewusst hat eskalieren lassen, um den restlichen EU-Mitgliedsstaaten den Notstand vor Augen zu führen. EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen hat auch umgehend reagiert und Griechenland „volle Unterstützung“ zugesagt – beim Schutz der Grenzen zur Türkei, nicht bei der Versorgung der Flüchtlinge. Diese Haltung ermutigt jetzt alle in der EU, denen Grenzschutz wichtiger ist als Flüchtlingsschutz.
Es ist nicht lange her, dass man sich über AfD-Politikerinnen empörte, die einen Waffeneinsatz gegen Flüchtlinge an Europas Grenzen nicht ausschlossen und über den damaligen österreichischen Außenminister Kurz, der „hässliche Bilder“ an Europas Grenzen ankündigte. Längst ist Gewalt gegen Schutzsuchende zur Normalität geworden – in den letzten Jahren meist eher im Geheimen und zumeist unbemerkt von einer breiteren Öffentlichkeit. Seit einigen Tagen aber ganz offen. Was hier passiert, ist mehr als das einseitige AUfkündigen des ohnehin höchst problematischen EU-Türkei-Deals. Die EU hat sich mit diesem Abkommen nicht nur erpressbar gemacht. Sie hat sich den Spielregeln eines Despoten unterworfen und dabei die Grundprinzipien der EU – Menschenwürde, Demokratie, Rechtsstaatlichkeit – verspielt.
Nordsyrien – komplettes Versagen
Die vermeintliche Grenzöffnung Richtung Griechenland ist ein perfides Druckmittel Richtung EU und NATO, in die militärische Eskalation um das syrische Idlib zu Gunsten der Türkei einzugreifen. Die knapp eine Million Flüchtlinge, die vor den Bomben und Luftangriffen des syrischen Regimes und Russland dorthin fliehen, sitzen auch weiterhin fest. An der Grenze zur Türkei schauen sie auf eine Mauer oder Stacheldraht, hinter ihnen wird bombardiert. Es gibt für sie kein Vor und kein Zurück. Während das syrische Regime und Russland nicht davor zurückschrecken, zivile Einrichtungen wie Schulen oder Krankenhäuser zu bombardieren, um Idlib wieder vollständig unter ihre Kontrolle zu bringen, ist es jetzt die Türkei, die zum Gegenangriff ausholt, um die Kontrolle über das von radikal-islamischen Milizen besetzte Gebiet nicht zu verlieren.
Die Flüchtlingslager in Idlib sind völlig überfüllt, die Versorgung dieser Menschen nicht gesichert. Anstatt Aufnahmegarantien in Europa zu geben, um die verzweifelten Menschen aus Idlib herauszuholen, eskaliert es nun an Europas Außengrenzen durch Erdogans provokative und medial inszenierte vermeintliche Grenzöffnung weiter. Das Ergebnis ist desaströs: Wer Abschottung betreibt, gleichzeitig aber keine politische Intervention und Lösung anbietet, um das Töten zu stoppen, der macht sich mitschuldig. Auch in Idlib werden die Flüchtlinge zum Spielball der internationalen Politik instrumentalisiert – der humanitären Katastrophe nimmt sich kein internationaler Akteur an, solange es keine Lösung für die Eskalation zwischen Türkei, Syrien und Russland gibt.
medicos Partnerorganisationen helfen
Es sind medico-Partnerinnen und -Partner, die in dieser hoffnungslosen Situation nicht aufgeben: Das Frauenzentrum in Idlib-Stadt versorgt hunderte Flüchtlinge, solange sie noch können und die Bomben sie nicht treffen. Für Frauenrechte treten sie – den Angriffen der islamistischen HTS-Milizen zum Trotz – weiter ein, dabei müssen sie jedoch auch an ihre eigene Flucht denken. Sollten die Bomben von Assad näher kommen, werden auch sie gehen und sich irgendwie in Sicherheit bringen müssen.