Editorial JOURNAL 1 juillet 2019 COLETTE MART
Das Mittelmeer, das zu den beliebtesten Urlaubszielen der Europäer gehört, wurde in den letzten Jahren zum Friedhof. Seit 2014 sind etwa 18.500 Menschen hier auf der Flucht ertrunken, was das Mittelmeer zur gefährlichsten Flüchtlingsroute weltweit machte. Die Todesrate ist im letzten Jahr dramatisch gestiegen, während die Flüchtlingszahl zurückgegangen ist. 2015 suchten noch über eine Million Menschen Zuflucht in Europa, und 2018 waren es nur noch 116000.
Dieses Wochenende bewegte ein Flüchtlingsdrama, und zwar jenes des deutschen Rettungsbootes Sea-Watch, die europäische Öffentlichkeit. Eine junge Kapitänin, Carola Rackete, beschloss, aller EU-Politik gegen Flüchtlinge zum Trotz, den Hafen von Lampedusa mit 40 erschöpften Flüchtlingen anzufahren, wurde prompt von der Polizei festgenommen und löste in den sozialen Medien eine grenzüberschreitende Solidaritätswelle aus. Dass Luxemburg einen Teil der Migranten der Sea-Watch aufnehmen will, und dass unser Außenminister Jean Asselborn sich persönlich für die Befreiung Racketes einsetzte, ehrt unser Land.
Man gewinnt den Eindruck, dass es bei uns doch noch eine kollektive Erinnerung an eine Zeit gibt, in der es ebenfalls verboten war, Menschen in Not zu helfen.
Europa zelebrierte nämlich vor einigen Wochen den 75. Jahrestag des D-Day, also jenes legendären Tages, an dem die Befreiung Europas vom deutschen Nazi-Regime begann. Während des Zweiten Weltkriegs war es in Europa verboten, verfolgten Juden zu helfen, oder auch Refraktären, die aus der Wehrmacht desertierten. Im Krieg gab es glücklicherweise in Deutschland eine Sophie Scholl, die ein anständiges Deutschland symbolisierte, und bei uns u.a. eine Lily Unden, die Juden und Refraktären half und deswegen auch festgenommen wurde.
Der Vergleich mit dem Zweiten Weltkrieg gilt hier und jetzt unbedingt, denn Europa sollte sich Gedanken darüber machen, wie es vor der Generation seiner Kinder und Enkelkinder dasteht, wenn diese auf die zeitgenössische Geschichte zurückblicken.
Die derzeitigen Dramen im Mittelmeer rühren nämlich auch noch an einen anderen Aspekt der Geschichte des Zweiten Weltkrieges. 1944 beteiligten sich zehntausende Maghrebiner und Schwarzafrikaner aus den europäischen Kolonien an der Befreiung Europas, ohne dass sie nach 1945 dafür gewürdigt worden wären. Vielmehr wurden sie von den Siegern rund um Charles de Gaulle zum Beispiel aus dem Gedächtnis der Europäer verdrängt, und auch nach dem Krieg erniedrigt und ungerecht behandelt. Des Weiteren kämpften auch Schwarzamerikaner an vorderster Front für die Befreiung unseres Kontinents, sie starben an ihren Fallschirmen am D-Day dahin, und die Überlebenden kehrten in ein Amerika der Rassendiskriminierung zurück.
Die Geschichte Europas ist ein Ganzes. Wir können uns nicht unserer demokratischen Werte und Menschenrechte rühmen, wenn wir keine humane und globale Lösung für die Flüchtlinge finden.
Die Flüchtlinge sind nämlich die Enkel jener, die uns im Krieg von Hitler befreit haben, und es sind gar nicht einmal so viele.