Reise in die Finsternis

AUSBEUTUNG Wie ein junger Afrikaner in die Fänge der Menschenhändler geriet
Stefan Kunzmann, Isabel Spigarelli  tageblatt 5. Februar 2025
Die französische Modehistorikerin und Journalistin Audrey Millet erzählt die Geschichte von einem Schneider aus der Elfenbeinküste auf seinem Weg nach Europa und in der von moderner Sklaverei geprägten Bekleidungsindustrie.
Audrey Millet beschreibt in ihrem Buch die Odyssee von Abdoul, Menschenhandel und Zustände in der Bekleidungsindustrie
Fotos: Editpress/Julien Garroy

Prato, Juni 2022: Audrey Millet ist gerade mit der Recherche über die örtliche Textilindustrie beschäftigt, als sie auf der Straße von Abdoul angesprochen wird. Er stellt sich ihr als Schneider vor und sagt, er komme aus der Elfenbeinküste – und erzählt ihr seine Geschichte. Die Autorin war unter anderem mit ihrem „Schwarzbuch der Mode“ (2021) bekannt geworden. Die Geschichte von „L’Odyssée d’Abdoul“, wie Millet später ihr neues Buch nennen wird, beginnt 2015, als Abdoul sich eine Nähmaschine kaufen will, um sich als Schneider selbstständig zu machen.
Abdoul hatte nie vor, nach Europa auszuwandern. „Ich wollte in meiner Heimat bleiben und als Schneider arbeiten“, erzählt der 40-Jährige, der gemeinsam mit Audrey Millet auf Einladung luxemburgischer NGOs, u.a. ASTI und Fairtrade Lëtzebuerg, ins Großherzogtum gekommen ist, um von seinen Erlebnissen zu berichten und das Buch vorzustellen. Aufgewachsen ist er in Abidjan, der Hauptstadt des westafrikanischen Landes. In die Schule konnte er nicht gehen. „Meine Eltern hatten nicht das Geld dafür. Schließlich habe ich noch zwei Brüder und vier Schwestern.“
Im Vorhof zur Hölle
Für die Ausbildung und das Material brauchte er Geld, und in Abidjan gab es nicht genug Arbeit. Abdoul begegnete einem Mann namens Ousmane, der ihm vorschlug, in Burkina Faso zu arbeiten. „Ich versuchte also mein Glück“, erzählt Abdoul in unserem Interview. Für 60 Euro kaufte er sich ein T ic ket von Abidjan nach Ouagadougou. Rimbo Transport Voyageurs heißt das Busunternehmen, auch „Roi de la route“ genannt. Die Firma hat ein Monopol – und ist Teil eines internationalen Netzwerks von Menschenhändlern.
Am Ziel angekommen, das nur eine erste Durchgangsstation einer noch viel längeren Reise sein sollte, begann die Ausbeutung. „Der Patron war nicht ehrlich und vertrauenswürdig mit der Bezahlung. In der Schneiderei stellten wir traditionelle Kleidung her. Wir schliefen und aßen in der Firma. Die Arbeitsbedingungen waren schlecht.“ Unwissentlich hatte Abdoul den Weg in die Sklaverei beschritten. Er nahm den Bus nach Niamey, die Kapitale von Niger. Doch auch dort gab es keine Arbeit für Abdoul. „Geh nach Agadez“, riet man ihm. Dort gebe es Arbeit für jeden.
Also zog er weiter in die Stadt, die als „Tor zur Sahara“ bezeichnet wird, manche nennen sie den Vorhof zur Hölle. „Die schlimmste Erfahrung in meinem Leben“, sagt Abdoul. „Ich habe schreckliche Dinge gesehen: wie Menschen misshandelt und getötet werden, wie Kinder sich prostituieren und Frauen vergewaltigt werden.“
Abdoul war in die Fänge der nigerianischen Mafia geraten, die „Black Axe“-Bruderschaft, auch als „Neo Black Movement of Africa“ bekannt, die Drogen-, Menschen-, Waffenhandel, Dating-Betrug und Prostitution betreibt und Schleusungen organisiert. „Sie sind in ganz Afrika aktiv, aber auch in Italien“, weiß Audrey Millet, „und sind wie eine Sekte.“ Einst wurde die „Black Axe“ als studentische Bewegung in Benin gegründet, die ideologisch dem Panafrikanismus nahestand. Ihr gehörte auch der spätere Literaturnobelpreisträger Wole Soyinka an. Sie fungiert heute nicht zuletzt als Schlepper für Migranten in Richtung Europa.
Die Wüste sei wie ein Friedhof für die Afrikaner, sagt Abdoul. Er reiste, eingepfercht in einem Pick-up und geschlagen von den Schleppern, durch die Sahara. „Du gehorchst ihnen, denn du hast keine Wahl. Man raubte mir meine Identität, meine Würde. Ich schwebte zwischen Leben und Tod.“ Er erreichte Gatrone, eine Stadt im Süden Libyens. „Dort werden die Migranten aussortiert“, sagt Millet. „Sie werden wie Vieh behandelt. Es ist wie ein Markt.“ Frauen werden für 300 Euro verkauft.
Schiffbrüchig im Mare Nostrum
Abdoul hatte Glück, weil er einen Beruf hatte. Er sagte, er sei Schneider. Die Migranten wurden als „Ibeid“ bezeichnet, als Sklaven. Abdoul kam in eine Fabrik, in der Gebetsteppiche hergestellt wurden. Er traf dort auf Hassan, ein Ivorer wie er. Ihm war Abdoul wie ein Sklave ausgeliefert und musste sieben Tage die Woche jeden Tag 14 Stunden für ihn schuften. Eine Möglichkeit zur Flucht bestand nicht, um ihn herum war nur Wüste. Sabha war wie ein „Konzentrationslager“, wie Abdoul sagt, von der Größe einer Stadt.
Später brachte man ihn nach Gargaresh, einer Oase in der Nähe von Tripolis und nicht weit vom Mittelmeer. „Dabei wollte ich doch nie nach Europa“, betont Abdoul einmal mehr. Obwohl er krank war, wurde er zusammen mit 20 bis 25 anderen Personen in ein kleines Schlauchboot gesetzt. Er war verletzt, sein Fuß tat ihm weh. Vor allem aber hatte er Angst. Sie waren mitten auf dem Meer. Die Passagiere urinierten ins Boot, einige mussten sich übergeben. Ein Mann starb. Die anderen wollten ihn über Bord werfen, doch Abdoul hinderte sie daran.

Ich habe schreckliche Dinge gesehen: wie Menschen misshandelt und getötet werden, wie Kinder sich prostituieren und Frauen vergewaltigt werden

Abdoul
Die Reise dauerte anderthalb Tage, an denen die Gruppe im Mare Nostrum, wie die Römer das Mittelmeer einst bezeichneten, trieb. Alle glaubten, sie würden sterben, bis am Morgen des nächsten Tages ein anderes Boot auftauchte. An Bord befanden sich fünf Personen, davon eine Frau. Es waren vier Italiener und ein Nigerianer. Auch sie nutzten die Gelegenheit, das armselige Häufchen von Schiffbrüchigen auszubeuten. Sie brachten sie an Land und steckten sie in einen Flixbus, der die Migranten direkt nach Prato brachte.
Luxusmode made in Chinatown
Die Stadt in der Toskana, die nur 20 Kilometer von Florenz entfernt liegt, ist seit Jahrzehnten für ihre Textilindustrie bekannt, besonders im Bereich der sogenannten Fast Fashion. Die alte Hochburg der italienischen Mode hat ihre beste Zeit längst hinter sich. Im Zuge der Finanzkrise beschleunigte sich ihr Niedergang. Hinzu kam ein Skandal um Schwarzgeld von etwa einer Milliarde Euro, das jährlich aus der Toskana nach China floss.
Im vergangenen April führten die Ermittler der italienischen Finanzpolizei eine Razzia in einer der Fabriken durch, in der Gürtel und Taschen von Giorgio Armani hergestellt wurden. Ein anderes Mal fand man Kleider von Christian Dior. Die als „Sweatshops“ bekannten Betriebe waren in den 80er und 90er Jahren entstanden, als die ersten Chinesen nach Prato kamen und die maroden Textilfabriken aufkauften und die Produktion in ihre Hand nahmen. Seither ist Prato in chinesischer Hand. Wie Le Monde diplomatique berichtet, sind heute rund 30.000 der knapp 200.000 Einwanderer Pratos Chinesen. Tausende chinesische Firmen sind in Prato gemeldet, die mit Abstand meisten von ihnen in der Textilbranche.
Die meisten Chinesen in Prato stammen aus der Hafenstadt Wenzhou. Sie waren nach Italien geschleust worden und hatten ihre Überfahrt mit dem ersten Lohn bezahlt, den sie in Prato verdienten. Auf ihren Modeartikeln steht „Made in Italy“. „Ich wurde von einem der Besitzer angesprochen und gefragt, ob ich eine Arbeit suchte“, erzählt Abdoul. Als ich sagte, dass ich Schneider sei, antwortete er, dass sich das gut treffe. Ich könne gleich mitkommen. Von außen sah die Firma nicht wie eine Fabrik aus. Als ich drin war, waren da nur Chinesen. Alle sprachen nur Chinesisch. Ich machte alles, nähte Kleider und machte Etiketten dran.“
So entstand in Prato eine Art von Chinatown mit Fabriken, aber auch mit Restaurants, Spielhallen und Teesalons. Im 19. Jahrhundert hatte man bereits verstanden, die Preise in der Textilindustrie zu senken, indem man andere, günstigere Materialien nahm. „Dann versuchte man, die Löhne der Arbeitskräfte zu drücken“, sagt Audrey Millet. Abdoul arbeitete zwei Jahre in einer der Fabriken. Er konnte seine Aufenthaltsgenehmigung immer wieder verlängern, bis er ein längerfristiges Bleiberecht bekam.
Die Odyssee von Abdoul, die in Abidjan begann, in Prato endete und den heute 40-jährigen Ivorer wieder nach Hause führte, war durch ein Zusammenspiel eines ganzen Netzwerks von Schlepperbanden möglich, die aus dem Menschenhandel ein lukratives Geschäft gemacht haben, von der nigerianischen bis zur sizilianischen Mafia, der Cosa Nostra, aber auch den chinesischen Triaden. „In Palermo hat man Wohnungen gefunden, die als Folterstätten genutzt wurden“, weiß Audrey. „Frauen und Mädchen werden zur Prostitution gezwungen.“ Sie erinnert an die Arbeit der Rechtsmedizinerin Cristina Cattaneo, die etwa 800 Menschen identifizierte, die im Mittelmeer ums Leben gekommen waren, unter anderem von jenem Schiffsuntergang vor Lampedusa, bei dem 366 Menschen starben.

Du gehorchst ihnen, denn du hast keine Wahl. Man raubte mir meine Identität, meine Würde. Ich schwebte zwischen Leben und Tod.

Abdoul
Sie spricht auch über den Rassismus der Menschenhändler, die zum Beispiel die Bangladescher und Pakistaner mehr respektieren als die Afrikaner. „Aber sie respektieren nicht einmal ihre eigenen Leute aus Wenzhou“, sagt sie. „Es gibt sogar eine Hierarchie bei den Löhnen. Pakistaner kriegen etwa 50 Euro am Tag, Afrikaner nur 30. Gearbeitet wird den ganzen Tag von sieben bis 20 Uhr.“ Sieben Tage an der Woche, sei hinzugefügt. „Aber dann musst du morgens pünktlich um sieben Uhr beginnen und abends nicht vor acht aufhören“, sagt Abdoul, „und wenn du zwei oder drei Minuten aussetzt, wird dir das abgezogen.“
Als am 1. Dezember 2013 „Teresa Moda“, eine der Textilfabriken in dem Industriegebiet Macrolotto im Süden von Prato abbrannte, starben sieben Menschen. Zwölf Kilometer außerhalb von Prato wird Mode von Gucci, Yves Saint Laurent, Balenciaga, Valentino und anderen Marken weiter hergestellt. Auch hier arbeiten Chinesen und andere Migranten. Alles ist natürlich „Made in Italy“.
Spur nach Luxemburg 
Einige große Modeketten machen sich neben der Ausbeutung der Arbeitskräfte auch der Steuerhinterziehung schuldig – und nutzen dafür den luxemburgischen Finanzplatz. Audrey Millet greift in „L’Odyssée d’Abdoul“ unter anderem das Dossier um Dolce & Gabbana auf: 2004 und 2005 gründete das Luxusunternehmen eine Reihe von Gesellschaften, darunter Gado Srl in Luxemburg. Die Modeschöpfer wurden 2014 dafür wegen Steuerhinterziehung zu 18 Monaten Haft und einer Geldstrafe in Millionenhöhe verurteilt. Der Oberste Gerichtshof Italiens revidierte das Urteil 2015 und sah von der Gefängnisstrafe ab. Ein weiteres Beispiel für vergleichbares Vorgehen ist die Gruppe Kering mit Filiale in Luxemburg, die mehrere Luxusmarken (u.a. Gucci) vertritt.
Bekleidungsexporte  
Die zehn wichtigsten Exportländer für Bekleidung weltweit nach Exportwert im Jahr 2023 in Milliarden US-Dollar. China war mit einem Exportvolumen von mehr als 164,7 Milliarden US-Dollar der mit Abstand wichtigste Exporteur und lag auch an der Spitze der Exportländer für Textilien vor Indien, Deutschland, der Türkei und den USA sowie Italien. Die Arbeitsbedingungen in den Bekleidungsfabriken vor allem in China und Bangladesch sind oft prekär und von niedrigen Löhnen, langen Arbeitszeiten sowie niedrigen Sicherheitsstandards geprägt. (Quelle: Statista)