Was Armut mit Kindern macht

Alltag in prekären Verhältnissen
Luxemburger Wort 25 Mai 2024

Im Mittelpunkt des Caritas-Symposiums stand ein Thema, das im Koalitionsvertrag fehlt: Kinderarmut. Doch nicht nur die Politik ist gefordert, sondern die gesamte Gesellschaft.

Kinderarmut ist ein Thema, das auch in Luxemburg gerne unter den Teppich gekehrt wird. Während des zweitägigen Caritas-Symposiums wurde ausgiebig über das komplexe Problem diskutiert.
Kinderarmut ist ein Thema, das auch in Luxemburg gerne unter den Teppich gekehrt wird. Während des zweitägigen Caritas-Symposiums wurde ausgiebig über das komplexe Problem diskutiert.  Foto: Laurent Sturm / Zeichnung: Yolande Koster

„Als Kind hatte ich kein schönes Leben. Ich war das älteste in der Familie. Im Dorf wollten die Mädchen nichts mit mir zu tun haben, weil ich die Arme war. Mit sechs Jahren wurde ich in einem Heim untergebracht. Ich habe da nie meinen Platz gefunden. Ich habe nicht verstanden, warum ich dahin kam.“

Mit dieser Aussage einer betroffenen Frau beginnt René Schmit, ehemaliger Direktor der staatlichen Kinderheime, seinen Vortrag beim Caritas-Symposium zum Thema Kinderarmut am Donnerstag. Mit Ausschnitten aus dokumentierten Berichten will er deutlich machen, was es für Kinder im Alltag bedeutet, arm zu sein. Damit gibt er ihnen eine Stimme. Die Feststellung, dass mehr über arme Menschen gesprochen wird als mit ihnen, zieht sich wie ein roter Faden durch die Vorträge und Workshops, an denen Experten aus den unterschiedlichsten Bereichen des sozialen Sektors teilnehmen.

Kinder reden nicht darüber. Aber sie spüren vieles. Es macht etwas mit den Kindern.

René Schmit
Früherer Direktor der staatlichen Kinderheime

„Die Armut ist nicht in erster Linie eine Sache von Zahlen, Statistiken und Paragrafen“, sagt Schmit, aber es gebe nicht viele direkte Aussagen von Kindern über ihre erlebte Armut: „Kinder reden nicht darüber. Aber sie spüren vieles. Es macht etwas mit den Kindern.“

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Kinder aus sozial schwachen Verhältnissen haben schlechtere Chancen auf ein sorgenfreies Leben, weil es den Eltern nicht gelingt, aus dieser Spirale auszubrechen. Dies spiegelt sich in der Aussage einer anderen Betroffenen wider: „Wenn du arm geboren wirst, bleibst du arm. Du tust dein Bestes, um da rauszukommen, aber wenn du denkst, dass du es geschafft hast, kommt ein Schlag nach dem anderen, der dich noch tiefer in die Armut treibt.“

René Schmit, ehemaliger Direktor der staatlichen Kinderheime, gab den Betroffenen eine Stimme, was viel zu selten geschieht.
René Schmit, ehemaliger Direktor der staatlichen Kinderheime, gab den Betroffenen eine Stimme, was viel zu selten geschieht. Foto: Laurent Sturm

Eltern werden abgestempelt

Dass Armut mit all ihren Folgen ein Teufelskreis ist, aus dem man auch als Erwachsener nur schwer ausbrechen kann, wird umso deutlicher, als René Schmit die Geschichte der eingangs zitierten Frau mit ihren eigenen Worten weitererzählt: „Bei der Geburt meines dritten Kindes wurden meine beiden Ältesten platziert. Ich habe dafür gekämpft, dass sie zusammen bleiben. Vor Gericht hat man mir nicht geglaubt. Es war, als würde sich die Geschichte wiederholen: ‚Die Mutter war im Heim, also platzieren wir auch die Kinder‘. Ich hätte Unterstützung gebraucht. (…) Ich glaube, dass meine Eltern Unterstützung gebraucht hätten, um uns Kinder großzuziehen.“

René Schmit, heute Mitglied des Verwaltungsrates von ATD Quart Monde, zögert in seinem Vortrag nicht, von einer „Form institutioneller Gewalt“ zu sprechen und von einem System, „das nicht in der Lage zu sein scheint, den Schutz der Kinder und den Kampf gegen Armut und Ausgrenzung zu verwirklichen“. Auch wenn vonseiten der Fachkräfte und Institutionen viel „zum Wohle des Kindes“ getan werde, würden die Eltern oft nicht einbezogen. Schmit fordert „ein Umdenken im System“ und einen anderen Umgang mit dem Thema Armut.

30.000 Kinder sind armutsgefährdet

Im reichen Luxemburg gilt fast jedes vierte Kind als armutsgefährdet. Das sind 30.000 Minderjährige. Mehr als die Hälfte von ihnen ist von dauerhafter Armut betroffen. „Wir neigen dazu, das Problem unter den Teppich zu kehren. Das Stigma der Kinderarmut muss enttabuisiert werden“, fordert Paul Heber von der Unicef. „Kinderarmut ist ein Fleck auf unserem kollektiven Gewissen. Mit der richtigen Einstellung und dem gesellschaftlichen sowie politischen Willen muss hier in Luxemburg kein Kind in Armut leben“, betont er.

Mit der richtigen Einstellung und dem gesellschaftlichen sowie politischen Willen muss hier in Luxemburg kein Kind in Armut leben.

Paul Heber
Unicef

Charel Schmit, Ombudsman fir Kanner a Jugendlecher, bezeichnet Kinderarmut als „Frontalangriff auf die Rechte des Kindes“. Große Sorgen bereitet ihm die Unterbringung in den Flüchtlingsunterkünften. „Derzeit wachsen 2.012 Kinder in diesen Sammelunterkünften auf, darunter 325 Babys. Viele von ihnen kommen jahrelang nicht da raus, weil man die Eltern vom Arbeitsmarkt fernhält und administrative Hürden aufbaut, anstatt diesen Familien eine Perspektive zu geben“, moniert er.

Charel Schmit, Ombudsman fir Kanner a Jugendlecher, kritisierte die oft jahrelange Unterbringung von Flüchtlingskindern in Sammelstrukturen.
Charel Schmit, Ombudsman fir Kanner a Jugendlecher, kritisierte die oft jahrelange Unterbringung von Flüchtlingskindern in Sammelstrukturen.  Foto: Laurent Sturm

Armut geht weit über den finanziellen Aspekt hinaus

Armut hat nicht nur eine finanzielle, sondern auch eine emotionale Dimension. Arm zu sein bedeutet schlechtere Wohnverhältnisse, einen schlechteren Zugang zur Gesundheitsversorgung, eine weniger gute Arbeit, mehr Diskriminierung und soziale Ausgrenzung. Das wiederum hat zur Folge, dass Kindern nicht der Start ins Leben ermöglicht wird, den sie bräuchten, um aus dieser prekären Situation herauszukommen. Ihre Chancen auf Erfolg in der Schule sind oft geringer. Sie sind einem höheren Risiko ausgesetzt, psychisch zu erkranken oder allgemein gesundheitliche Probleme zu entwickeln. Armut und Hoffnungslosigkeit werden nicht selten von Generation zu Generation weitergegeben.

Das alles ist nicht neu. „Die Zeit des Redens ist vorbei“, bringt es Paul Heber auf den Punkt. Deshalb sollten auf dem Caritas-Symposium nicht nur die Faktoren benannt werden, die Kinderarmut verschärfen, sondern vor allem Lösungsansätze erarbeitet werden.

Es braucht Feingefühl, um das Thema anzusprechen und den Eltern nicht das Gefühl zu geben, in eine Ecke gedrängt zu werden.

Eva Heber
Arcus Asbl.

„Eltern wollen oft nicht, dass auffällt, in welcher Situation sie sich befinden“, weiß Eva Heber, Sozialpädagogin bei der Arcus Asbl, aus Gesprächen mit Kita-Mitarbeitern. „Es braucht Feingefühl, um das Thema anzusprechen und den Eltern nicht das Gefühl zu geben, in eine Ecke gedrängt zu werden.“ Sie betont die Wichtigkeit von Fortbildungen sowie Vernetzungsmöglichkeiten. „Crèche und Schule sind prägende Lebenswelten, in denen man sinnvoll Prävention betreiben kann“, hält sie fest. Um mehr Bildungsgerechtigkeit zu erreichen, müssen Kinder frühzeitig unterstützt und Eltern gestärkt werden.

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Fehlende Betreuungsplätze erschweren die Situation für Revis-Haushalte

Petra Böwen, Expertin für soziale Themen, wies darauf hin, dass es Alleinerziehende besonders schwer hätten und die Leidtragenden wiederum die Kinder seien.
Petra Böwen, Expertin für soziale Themen, wies darauf hin, dass es Alleinerziehende besonders schwer hätten und die Leidtragenden wiederum die Kinder seien. Foto: Laurent Sturm

Der Mangel an Betreuungsplätzen nimmt den Kindern letztlich die Möglichkeit, „das Angebot dieser qualitativ exzellenten Einrichtungen zu nutzen, um ihre schulische Laufbahn zu verbessern“, so Petra Böwen. Sie schlägt vor, dass Revis-Haushalte mit Kindern „positiv diskriminiert“ werden: „Gerade ihnen sollten Plätze in öffentlichen Betreuungseinrichtungen garantiert werden.“

Regierung wird an ihre Verantwortung erinnert

Dieser Vorschlag stößt auf breite Zustimmung und wird der Liste von Lösungen zur Bekämpfung der Kinderarmut beigefügt, die Premierminister Luc Frieden (CSV) und Familienminister Max Hahn (DP) am späten Nachmittag vorgelegt wird. Auch an das Problem der Nichtinanspruchnahme von staatlichen Hilfen wird erinnert sowie an das Versprechen aus dem Koalitionsvertrag, einen Guichet unique social einzurichten und bürokratische Hürden abzubauen. Angeregt wird darüber hinaus der Aufbau eines Netzwerks von „Experts du vécu“, die in alle wichtigen Entscheidungen eingebunden werden, sowie die Ernennung eines „Haut Commissaire à la lutte contre la pauvreté“.

Die Künstlerin Yolande Koster fasste die zentralen Probleme und Lösungsansätze auf einem Plakat zusammen. 
Die Künstlerin Yolande Koster fasste die zentralen Probleme und Lösungsansätze auf einem Plakat zusammen.  Foto: Simone Molitor / Zeichnung: Yolande Koster

Neben dem Mangel an bezahlbarem Wohnraum zieht sich ein weiteres Thema wie ein roter Faden durch die Diskussionen: die Stigmatisierung und Diskriminierung der Armen. „Es wird unterschieden zwischen den guten und den schlechten Armen, zwischen denen, die unfreiwillig hineingeraten sind, und denen, die selbst schuld sind“, wird kritisiert. „Arme Menschen und vor allem Kinder haben keine Lobby“, wird festgestellt. „Die Art und Weise, wie wir über Armut reden, muss sich ändern“, lautet am Ende das Fazit.