Widersprüche und Missverständnisse eines Asylgesuchs
Derzeit kämpft eine libysche Familie in Luxemburg um eine Verlängerung ihrer Aufenthaltserlaubnis. Eine Chronologie der Ereignisse.
Seit dem Ausbruch des ersten Bürgerkriegs in Libyen 2011 erschüttern jahrelang bewaffnete Konflikte zwischen Truppen der Regierung, von Machthabern und Milizen das nordafrikanische Land. 2019 verlässt eine libysche Familie ihre Heimat und kommt nach Luxemburg. Dabei handelt es sich um eine schwer kranke Mutter und fünf erwachsene Kinder. Einer der Söhne, erzählen die anderen Geschwister, müsse wegen seiner traumatischen Erfahrungen in Libyen psychiatrisch betreut werden.
Im Rahmen der rechtlichen Unterstützung bekommt die Familie einen ersten Anwalt zugewiesen, der sie bei ihrem Asylverfahren vertritt. Am 6. April 2021 erhält die Familie einen negativen Asylbescheid. Aus Datenschutzgründen könne das Innenministerium die Gründe für die Ablehnung nicht zur Verfügung stellen, teilt die Pressestelle auf Anfrage des „Luxemburger Wort“ mit. Die Voraussetzungen des Flüchtlingsstatus und des subsidiären Schutzes seien in diesem Fall nicht erfüllt gewesen. Wäre eines der beiden Kriterien erfüllt, hätte die Familie Anspruch auf internationalen Schutz.
Ablehnung nach Ablehnung
Der Anwalt der über die Ablehnung erstaunten Libyer legt beim Verwaltungsgericht Einspruch gegen die Entscheidung ein. Wegen der kriegsähnlichen Zustände in der Heimat können sie sich nicht vorstellen, derzeit dorthin zurückzukehren, sagen sie – besonders nicht mit der Mutter, die dreimal pro Woche zur Dialyse in ein Krankenhaus gebracht werden muss. Selbst laufen kann sie nicht. Es sei für Libyer schwierig, in Luxemburg Asyl zu erhalten, meinen zwei häufig mit solchen Fällen betraute Anwälte gegenüber dem LW. Dahinter, sagt einer der beiden zurückhaltend, vermute er eher politische als rechtliche Gründe.
Mitte 2022 wechselt die Familie den Anwalt. Regulär ist ein solcher Wechsel im Rahmen der rechtlichen Unterstützung einmalig vorgesehen. Als Grund für den Wechsel gibt die Familie gegenüber dem „Luxemburger Wort“ an, es sei nach der Ablehnung schwierig gewesen, Termine zu vereinbaren. Der Übersetzer habe keine Termine ausgemacht und immer geantwortet, der Anwalt sei beschäftigt. Auf Nachfrage gibt der betreffende Anwalt an, es hätten ohne Komplikationen mehrere Termine stattgefunden.
Durch ein Urteil vom 31. Januar 2023 wird der neue Antrag auf internationalen Schutz vom Verwaltungsgericht abgelehnt und der erste, negative Asylbescheid somit bestätigt. Der neue Anwalt der Familie legt nun beim obersten Verfassungsgericht Berufung ein. Auch diese Berufung ist erfolglos: Das Gesuch um internationalen Schutz wird am 23. Mai 2023 in letzter Instanz abgelehnt.
Neuer Antrag, neuer Anwalt
Die libysche Familie gibt an, dass eine Mitarbeiterin der Einwanderungsbehörde nach der Ablehnung dazu rät, einen Antrag auf humanitären Schutz zu stellen. Daraufhin gibt die Familie nach eigenen Angaben ihrem Anwalt den Auftrag, einen solchen Antrag zu stellen und Dokumente zum Gesundheitsstatus der kranken Mutter an die Einwanderungsbehörde zu vermitteln. Sie geht davon aus, so ein Bleiberecht erwirken zu können.
Am 14. Juli 2023 wird eine Reihe solcher Dokumente an die Gesundheitsbehörde übermittelt, bestätigt die Kanzlei des betreffenden Anwalts. Diese Mail ist auch an die libysche Familie adressiert, welche sie dem LW vorlegt. Wenige Wochen später wechselt die Familie erneut den Anwalt. Der Grund: Die Familie habe den Eindruck gewonnen, dass der Anwalt faul sei. So sei er zu einer Anhörung nicht erschienen, wie sie im Nachhinein von anderer Stelle erfährt.
Was der libyschen, nicht mit Luxemburgs Rechtssystem vertrauten Familie scheinbar nicht bewusst ist und wohl nicht vermittelt wurde: Bei Verhandlungen vor dem Verwaltungsgericht läuft der Großteil der Prozedur schriftlich ab. Wenn Anwälte im Vorfeld bereits alle Punkte schriftlich eingereicht haben, sind sie daher bei der Anhörung selbst nicht unbedingt anwesend.
Das Schreiben, das nie einging
Da ein mehrfacher Wechsel des Anwalts prinzipiell nicht vorgesehen ist, fordert die Anwaltskammer die Familie am 22. August 2023 dazu auf, die Gründe für den erneuten Austausch zu erklären, ehe diesem stattgegeben werden kann – so die Angaben der bis dahin zuständigen Kanzlei. Der Kanzlei selbst liege bis heute keine Begründung vor. Die Anwaltskammer bestätigt generell, „dass ein Empfänger von Prozesskostenhilfe den Anwalt grundsätzlich nicht mehr als einmal frei wechseln kann und dass ein solcher Antrag nur mit einer adäquaten Begründung zulässig ist“.
Der neue, dritte Anwalt der Familie hat bereits am 21. August, also einen Tag vor der Aufforderung der Anwaltskammer an die Familie, ein Schreiben verfasst, in dem er eine Verlängerung des Aufenthalts fordert. Sowohl das Familienministerium als auch das Innenministerium geben jedoch an, dass nach der letztendlichen Ablehnung des Asylgesuchs über ein Jahr lang kein neuer Antrag bearbeitet wird. Dem Familienministerium untersteht das für die Unterbringung der Familie zuständige Nationale Aufnahmeamt (ONA), dem Innenministerium die Einwanderungsbehörde.
Im September 2023 läuft, wie das Familienministerium mitteilt, das sogenannte „papier rose“ der Familienmitglieder aus. Die Bescheinigung ermöglicht es dem Antragsteller, sich während der Bearbeitung des Antrags auf internationalen Schutz in Luxemburg aufzuhalten. Sie wird grundsätzlich drei Tage nach der Einreichung des Antrags ausgehändigt und muss monatlich erneuert werden. Auch die Bewerbung für eine Arbeitsstelle ist damit grundlegend möglich. Die Familie gibt jedoch an, dass auch im Besitz des „rosa Formulars“ alle Bemühungen um eine Arbeitsvermittlung vergebens gewesen seien.
Fast-Rauswurf nach über einem Jahr
Am 2. Oktober 2024 erhält die Familie eine Mitteilung vom Nationalen Aufnahmeamt. Mit Bezug auf die definitive Ablehnung des Asylgesuches – im Schreiben ist vom 23. Mai 2024 die Rede, gemeint dürfte das Jahr 2023 sein – werden die inzwischen über 70-jährige Mutter und ihre vier Kinder aufgefordert, ihre Unterkunft bis zum 14. Oktober um 13 Uhr zu verlassen. Bis dato hat die Familie, wie Familien- und Innenministerium bestätigen, fast anderthalb Jahre lang ohne laufenden Antrag in der Unterkunft des ONA gewohnt.
Erst für den 9. Oktober geben die beiden Ministerien übereinstimmend den Erhalt eines neuen Antrags an: Der Anwalt der Familie hat einen Antrag auf verlängerten Aufenthalt aus medizinischen Gründen gestellt. Die Mutter ist nicht nur körperlich schwer krank, wie die Kinder erklären, sondern benötigt auch aufgrund psychischer Probleme eine Betreuung durch ihre Kinder. Am 14. Oktober wird der Familie nach eigener Auskunft erst kurz vor Ablauf der Frist mitgeteilt, dass die Entscheidung fürs Erste aufgehoben sei – mit Verweis auf den eingegangenen Antrag und solange dieser in Bearbeitung ist.
Ein Aufschub ist kein Asyl
„Manche Klienten verstehen nicht, dass es sich bei solchen Anträgen nur um einen Aufschub, nicht um ein Asyl handelt“, sagt ein Anwalt mit Erfahrung bei der Betreuung von Klienten mit solchen Anträgen, als ihm der Fall erläutert wird. Er habe den Eindruck, dass zuweilen Klienten clever lügen, um die Kriterien für internationalen Schutz zu erfüllen, während anderen ihre tatsächlichen Erlebnisse nicht geglaubt werden, weil sie diese nicht überzeugend präsentieren.
„Zunächst wird eine schriftliche Stellungnahme von Antragstellern auf internationalen Schutz verlangt“, erklärt der Anwalt. „Da kann man schon zig Fehler machen.“ Anschließend müsse man sich bei der Einwanderungsbehörde einfinden, die früher dem Außenministerium unterstellt war, inzwischen aber dem Innenministerium zugeordnet ist. „Dort muss man überzeugend wirken und bestenfalls alles belegen können, was man sagt“, fährt der Anwalt fort. „Wenn der Klient einen schlechten Tag hat und sich nicht gut präsentiert, kann das mit über eine Ablehnung entscheiden.“
In solchen Fällen bleibe den Klienten nur, eine Anstellung zu finden und darüber geduldet zu werden, so der Anwalt weiter. Das sei zwar keine Garantie dafür, nicht ausgewiesen zu werden. „Aber es ist die einzige Chance, in Luxemburg zu bleiben. In dieser Hinsicht haben wir ein kapitalistisches Einwanderungsrecht.“
Vermehrte Fälle seit Regierungswechsel
Bislang durfte die Familie fast anderthalb Jahre nach der definitiven Ablehnung des Asylgesuchs in der Unterkunft des ONA bleiben. Dass sie nun aufgefordert wurde, die Wohnstruktur zu verlassen, dürfe laut zuständigem Familienministerium „auch vor dem Hintergrund der begrenzten Bettenanzahl“ verständlich sein, „da das ONA lediglich für die Unterbringung von Personen, deren Antrag in Bearbeitung ist, zuständig ist“.
Die libysche Familie ist nicht die einzige, die Anfang Oktober vom ONA aufgefordert wurde, ihre Unterkunft zu verlassen und sich bei der Einwanderungsbehörde zur Organisation der freiwilligen Rückkehr einzufinden. Am 3. Oktober erhält eine junge Familie aus Kamerun ein ähnliches Schreiben. Sowohl Marianne Donven von der Initiative „Oppent Haus“ als auch der Anwalt der Kameruner Familie haben den Eindruck, dass sich solche Fälle seit dem Regierungswechsel häufen.