Wieder auf Anfang: Ukraine-Flüchtlinge müssen mitunter zurück ins „Centre de primo-accueil“

Luxemburg / Wieder auf Anfang: Ukraine-Flüchtlinge müssen mitunter zurück ins „Centre de primo-accueil“
Zurück auf Los: Für einige Ukraine-Flüchtlinge geht es wieder zurück ins „Centre de primo-accueil“ Grafik: Shutterstock/Tageblatt
Stefan Kunzmnann, tageblatt 1. April 2025

Viele Flüchtlinge aus der Ukraine haben Schwierigkeiten, hierzulande eine feste Bleibe oder gar Arbeit zu finden. Hiesige Hilfsorganisationen stoßen an ihre Grenzen und sind teils überfordert, so auch das „Office national de l’accueil“ (ONA).

Alexander* ist verzweifelt. Ende August 2022, gut ein halbes Jahr nach dem Beginn des russischen Angriffskrieges auf die Ukraine, sind seine Frau und er aus dem zentralukrainischen Poltawa nach Luxemburg geflohen. Die hiesige Regierung hatte für die ukrainischen Geflüchteten eine Einrichtung bereitgestellt – zuerst in der „Structure d’hébergement d’urgence“ (SHUK) auf Kirchberg. „Es war eine Massenunterkunft“, sagt Alexander, „doch wir waren froh, dass wir in Luxemburg aufgenommen worden waren.“

Bereits nach kurzer Zeit war in der Kirchberger rue Tony Rollman eine Einrichtung für die provisorische Erstaufnahme der Ukrainer geschaffen worden – das „Centre de primo-accueil“. Alexander und seine Frau mussten nicht lange in der Notunterkunft bleiben. Wie alle ukrainischen Flüchtlinge brauchten sie keine besonderen Schritte zu unternehmen, um einen temporären Schutz zu erhalten. Das Ehepaar hatte dazu ein Formular von der Einwanderungsbehörde erhalten, das sie ausfüllen mussten. Um die Unterbringungen kümmerte sich das „Office national de l’accueil“ (ONA), betreut werden die Einrichtungen von der Caritas (heute HUT) und der „Croix-Rouge luxembourgeoise“.

„Wir kamen in ein Hotel nach Düdelingen“, erzählt Alexander. „Dort wurden wir zusammen mit etwa 30 bis 40 weiteren Flüchtlingen untergebracht.“ Im Dezember brachte man ihn und seine Frau schließlich in einem Zimmer in derselben Gemeinde unter, wo die beiden bis heute wohnen. Der heute 59-Jährige berichtet von den vielen Stresssituationen, die er und seine 67-jährige Frau, die zudem noch erkrankte, durchlebten. Und er blickt zurück auf die Zeit in der Ukraine: Alexander, russischer Staatsbürger, hatte in Belarus als selbstständiger Unternehmer in der Möbelbranche begonnen, bevor er sich in Poltawa niederließ. Die ukrainische Nationalität bekam er verweigert.

Dass sich die Odyssee der beiden in Luxemburg fortsetzen sollte, war nicht abzusehen. Bis heute habe er etwa vom Roten Kreuz, das die Einrichtung in Düdelingen betreut, nicht den Grund genannt bekommen, weshalb er nach einem Schreiben, das er von der Organisation erhielt, seine derzeitige Bleibe bis März 2025 verlassen sollte. „Auf meine Fragen hin haben sie mir nur gesagt, dass kein Geld mehr da sei“, sagt Alexander, der seither unzählige Briefe geschrieben hat und auch einen Anwalt zurate zog.

„Croix-Rouge“ stoppt Programm

Auf Anfrage des Tageblatt gab die „Croix-Rouge“ an, dass sie seit dem Start des Programms zur Bereitstellung von Privatwohnungen vor drei Jahren insgesamt 556 – 101 Männer, 219 Frauen und 236 Kinder – sogenannte „Bénéficiaires de la protection temporaire“ (BPT) unterstützt habe, nicht zuletzt „dank der Großzügigkeit zahlreicher Vermieter und Spender“. Pro Jahr seien durchschnittlich fast 90 Wohnungen zur Verfügung gestellt worden.

Nicht wenige der betreuten Hilfeempfänger hätten sich nach und nach integrieren können, hätten eine Arbeit bekommen und bereits zu den Kosten ihrer Unterkunft beitragen können, heißt es in der Antwort des Roten Kreuzes. „Einige konnten sogar aus der kostenlos zur Verfügung gestellten Wohnung ausziehen oder beziehen derzeit eine Sozialwohnung im Rahmen einer sozialen Mietverwaltung (GLS/,Gestion locative sociale‘, Anm. d. Red.).“ Nach Angaben der Organisation wurden seit 2022 etwa 1,384 Millionen Euro an Spenden in zweieinhalb Jahren für die Zahlung der Nebenkosten verwendet.

„Das Rote Kreuz setzt sich dafür ein, dass unsere Hilfe Menschen in Not zugutekommt, die am dringendsten Unterstützung benötigen. Um sicherzustellen, dass unsere Ressourcen dort ankommen, wo sie am meisten gebraucht werden, haben wir die Entscheidung getroffen, die Bereitstellung von Unterkünften für die BPTs aus der Ukraine nach März 2025 zu beenden und die Gelder auf mehrere Zielgruppen auszuweiten, die in Wohnungsnot sind.“ Dies erklärt Nadine Conrardy, Direktorin der Abteilung Soziale Hilfe und Gesundheit bei der Croix-Rouge. Sie führte weiter an: „Diese Entscheidung folgt unserem Grundsatz, den vulnerabelsten Menschen, die jetzt die dringendste Hilfe bei der Bereitstellung von Wohnraum benötigen, zu helfen. Dabei bleibt das Rote Kreuz weiterhin voll engagiert, den Übergang so reibungslos wie möglich zu gestalten und für jede betroffene Familie individuell passende Lösungen zu finden.“

Nach eigenen Angaben hat das Luxemburger Rote Kreuz 2022 und teilweise auch 2023 viele Spenden erhalten, die speziell für die Ukraine gekennzeichnet waren. Diese Mittel seien mittlerweile vollständig aufgebraucht. Derzeit würden für die Personen, die temporären Schutz erhalten, Spenden eingesetzt, die nicht zweckgebunden sind. Dies erlaube, die Spenden „flexibel für unsere verschiedenen Aktivitäten zu nutzen und wo wir sorgfältig abwägen müssen, welche Bedürfnisse am dringendsten sind“, so die Antwort auf eine weitere Tageblatt-Nachfrage.

Wie unsere Zeitung in Erfahrung brachte, wurde das Programm „Logement indépendant“ für dieses Jahr nicht mehr budgetiert. Davon seien insgesamt mehr als hundert Familien betroffen. Die Croix-Rouge erklärte dazu: „Da im Herbst 2024 die Entscheidung getroffen wurde, das Programm ‚Logement indépendant‘ im März 2025 zu beenden, haben wir im internen Rot-Kreuz-Budget für dieses Jahr keinen gleich hohen Betrag wie in den vergangenen zwölf Monaten eingeplant. Das hindert uns jedoch nicht daran, weiterhin individuell nach Lösungen für betroffene Personen zu suchen.“

Zurück auf Anfang

Weil das ONA verpflichtet sei, unter temporärem Schutz stehende Personen unterzubringen, sodass niemand auf der Straße leben muss, bleibe das ONA weiterhin eine Option. In diesem Fall müssen die betroffenen Personen für eine kurze Zeit im „Centre de primo-accueil“*** auf Kirchberg untergebracht werden. Also zurück auf Anfang für all jene, die nichts finden? Zurück auf Los im Luxemburger Monopoly, das in der Immobilienkrise unter verschärften Bedingungen stattfindet. Der Aufenthalt in der Auffangeinrichtung soll in der Regel nur kurz sein, wenn keine andere Lösung gefunden wurde, wie es heißt.

Das dürfte Alexander nicht beruhigen. Für ihn wäre eine Rückkehr in das Auffanglager ein herber Rückschlag, eine Niederlage. Nach eigenen Worten hat er jahrelang versucht, unter anderem über die Arbeitsagentur, eine Beschäftigung zu finden. Er hat Kurse belegt, hat Französisch gelernt. Aber bis heute ist er nicht fündig geworden. Das zehrt an seinen Kräften. Und nun wieder der Weg zurück – zum „Centre de primo-accueil“, also zurück auf Anfang seiner Odyssee im Land der Hoffnung? Die Zustände in der Auffangstelle für Flüchtlinge, aber auch in anderen Unterkünften, sind mitunter katastrophal, wie einige Bewohner bestätigen können.

Wenn er nichts findet, „wäre das eine Katastrophe“, sagt Alexander. „Es sind viele Menschen aus unterschiedlichen Kulturen dort. Die können nicht zusammenleben, weil sie ganz verschiedene Gewohnheiten haben. Das passt nicht zusammen.“

Ich war schockiert, so eine Einrichtung in so einem schönen Land zu sehen. Zwölf Leute waren in einem Zelt untergebracht. Die Heizung reichte nicht aus. Es war ständig kalt.

Mariya*

In der Einrichtung in der rue Tony Rollman wurde auch Mariya* vorübergehend aufgenommen. Sie ist Anfang des Jahres mit ihrem zehnjährigen Sohn von Lwiw nach Luxemburg angekommen. In der westukrainischen Stadt hatte sie eine Kleiderboutique und musste alles zurücklassen. Nach zwei Monaten im „Tony Rollman“ hat man für die beiden ein Zimmer in einem Hotel in der Hauptstadt gefunden. Sie erinnert sich nur ungern an die ersten Tage. „Ich war schockiert, so eine Einrichtung in so einem schönen Land zu sehen“, sagt sie. „Zwölf Leute waren in einem Zelt untergebracht. Die Heizung reichte nicht aus. Es war ständig kalt. Ich wurde schnell krank, bekam Grippe. Ebenso meinen Sohn.“

Heimweh trotz Krieg

Außerdem sei es sehr schmutzig gewesen, sagt Mariya weiter. „Ich traute mich nicht, etwas zu sagen – zum einen wegen der Verständigungsschwierigkeiten“, so die frühere Geschäftsfrau, „zum anderen, weil ich Angst hatte. Schließlich gab es auch Konflikte unter den Bewohnern. Andererseits erklärte uns von offizieller Seite niemand etwas. Sie sagten zwar zu uns, dass wir verlegt wurden, aber es dauerte lange. Die Ungewissheit bereitete mir Angst. Ich konnte nicht mal zur Apotheke, als mein Sohn Dienst hatte“. Den Jungen plagte zudem trotz des Krieges in der Heimat das Heimweh. „Er will wieder in die Ukraine“, weiß Mariya, „dabei gibt es zumindest jetzt keinen Weg zurück.“ Am schlimmsten habe sie die mangelnde Hygiene empfunden. Der Reinigungsdienst, der eigentlich kommen sollte, ging nicht in die Duschen.

Von traumatischen Erlebnissen berichtet Alina*, die vor zwei Jahren in die SHUK kam und danach im sogenannten Bâtiment T auf Kirchberg untergebracht war. „Es wurde immer schlimmer, mehr und mehr Leute kamen.“ Auf vier Stockwerken in dem ehemaligen Gebäude des Europäischen Gerichtshofs heute sollen es an die 1.500 Bewohner sein, betreut von der Croix-Rouge und HUT. „Es sind so viele Nationalitäten, Afrikaner, Araber und viel mehr“, sagt sie. „Neben der defekten Heizung erschrecken mich vor allem die kaputten Duschen, die zudem völlig verdreckt sind. In den Sanitäranlagen gibt es Pilzbefall. Und neben unserem Zimmer ist eine Männertoilette, vor der die Leute rauchen, dabei habe ich Asthma, sodass ich das nicht vertrage. Zudem haben meine beiden Kinder einige Allergien.“

Emotionale Erpressung

Anscheinend tut man alles dafür, dass wir wieder in die Ukraine zurückkehren

Alina*

Wenn eines der beiden Kinder von Alina auf die Toilette muss, begleitet sie es, und wenn sie geht, passt eine Bekannte auf die Kleinen auf. Ein weiteres Problem sei das schlechte Essen. „Am Anfang war es besser, wir bekamen zum Beispiel Joghurts, aber mit der Zeit hat sich vieles verschlechtert“, erinnert sich die junge Frau. „Anscheinend tut man alles dafür, dass wir wieder in die Ukraine zurückkehren.“ Darüber hinaus sei sie psychologisch unter Druck gesetzt worden, indem man ihr drohte, ihr die Kinder wegzunehmen. „Es glich einer emotionalen Folter.“

Nicht zuletzt berichtet sie von immer wiederkehrenden Spannungen zwischen den Männern, wenn diese betrunken sind. Problematisch sei auch die fehlende Privatsphäre: „Wir dürfen selbst nicht kochen, sodass die Sozialarbeiter kommen und uns alles wegnehmen, was wir zum Kochen benutzen könnten“, sagt Alina. „Sie sagen, das sei aus Sicherheitsgründen.“

Ähnliches berichtet Yuliya*, über die drei Monate, in denen die junge Frau aus Saporischschja zusammen mit ihrer Mutter und ihrem fünfjährigen Kind in der Auffangstruktur auf Kirchberg wohnte, nachdem sie zuerst bei einer Gastfamilie gewohnt hatte und bevor sie in eine Einrichtung nach Hollerich gekommen war. „Im Tony Rollman war es ziemlich schmutzig“, sagt sie. „Ich erinnere mich noch an die vielen Fliegen auf dem Essen. Als ich mich über die mangelnde Hygiene beschwerte, kam endlich jemand zum Putzen.“ In der neuen Einrichtung, wo die Familie untergebracht ist, sind die Bewohner selbst für die Reinigung zuständig. „Auch hier muss ich mein Kind zur Toilette begleiten“, sagt sie. „Das empfehlen sogar die Sozialarbeiter.“

Dort leben etwa hundert ukrainische Flüchtlinge. „Auch hier dürfen wir nicht kochen“, sagt sie. Über ihre Perspektive kann sie wenig sagen. In die Heimatstadt zurückzukehren, wo das größte Atomkraftwerk Europas steht und wo im ersten Jahr nach dem russischen Überfall auf die Ukraine ein Sammelplatz für die Flüchtlinge aus den von Russland kontrollierten Gebieten entstand, ist derzeit undenkbar. Momentan leben Yuliya, ihre Mutter und ihr Kind auf kaum 20 Quadratmetern, kalkuliert werden im Schnitt sechs Quadratmeter pro Person. Die drei bekommen monatlich jeweils rund 80 Euro. Als IT-Spezialistin hätte Yuliya zwar gute Jobaussichten. „Meine Englischkenntnisse reichen jedoch nicht aus“, weiß sie, „Ich muss also wieder bei null anfangen.“ Auch ihre Mutter war beim Arbeitsamt und hofft, bald eine Beschäftigung zu finden.

Die Lage für die Geflüchteten hat sich nicht wesentlich gebessert, erklärt eine freiwillige Mitarbeiterin von LUkraine. Die 2014 gegründete Non-Profit-Organisation setzt sich nicht nur für ihre Landsleute in der Heimat ein, indem sie humanitäre und medizinische Hilfe leistet, sondern auch für die Ukrainer hierzulande mit verschiedenen Hilfsangeboten. Ein ums andere Mal hat LUkraine auf Missstände aufmerksam gemacht. Yuliya, die wie Alina von einem steten emotionalen Druck spricht – bis hin zu dem Gefühl, erpresst zu werden –, hat schließlich die Vertreterin des Ombudsman der Ukraine in Luxemburg kontaktiert. „Wir lassen uns nicht auseinanderbringen“, sagt sie trotzig. Auf die Frage, wie sie sich momentan fühlt, antwortet sie zögernd: „Comme ci, comme ça.“

Nach den im Februar vom Innenministerium veröffentlichten Zahlen hatten bis zum 31. Dezember 2024 insgesamt 3.873 Personen in Luxemburg vorübergehenden Schutz bewilligt bekommen. Im Laufe des vergangenen Jahres hatten 907 Personen einen Antrag gestellt, 822 davon waren Ukrainer (451 weiblich, 191 minderjährig).

* Namen sind von der Redaktion geändert, um die interviewten Personen zu schützen.

** Heute beherbergt das Rote Kreuz 59 Familien – insgesamt 144 Personen. Viele Familien haben bereits seit Ende letzten Jahres eine Wohnlösung gefunden. 13 Bereitstellungen sollen in private Verträge umgewandelt werden, eine in eine Sozialunterkunft, neun Wohnungen werden noch bis zum Schulende Mitte Juli 2025 über das Rote Kreuz weiterlaufen. Für die 16 verbleibenden Wohnungen werden noch passende Lösungen gesucht.

*** Dies wird fälschlicherweise oft mit der SHUK verwechselt, welche in den Hallen der Luxexpo war und wo sich jetzt die „Maison retour“ befindet.

 

Das „Bâtiment T“ (r.) am Boulevard Konrad Adenauer
Das „Bâtiment T“ (r.) am Boulevard Konrad Adenauer Foto: Editpress/Julien Garroy